Schweizerische Demokratie. Sean Mueller
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Aus politologisch-soziologischer Sicht fallen die Bewertungen des Milizsystems unterschiedlich aus. Geser et al. (1987) unterstreichen am Beispiel der Gemeinden die Bedeutung des Milizsystems für die Funktionsfähigkeit einer dezentralen politischen Kultur in der Kleingesellschaft. Germann (1981 und 1995) weist aber auch auf die Grenzen des Milizsystems hin, das in vielen Verwaltungsbereichen professionellen Kriterien nicht mehr genügt oder organisatorisch die zunehmende Komplexität nicht mehr bewältigen kann. Die frühe politologische Kritik beanstandete das Milizparlament beim Bund: Dieses weise schwerwiegende Funktionsdefizite aus, die nur durch echte Schritte zur Professionalisierung gelöst werden könnten (Gruner 1974; Riklin/Möckli 1991). Parlamentsreformen haben in der Zwischenzeit viele der kritisierten Mängel behoben, und Z’Graggen (2009a) zeigt im internationalen Vergleich, dass von einer vollen Professionalisierung wenig Vorteile zu erwarten wären. Es bleibt allerdings der Einwand, dass das Milizsystem zur ideologischen Fiktion geworden ist, welches den halbprofessionellen Charakter der eidgenössischen Räte verhüllt (Bütikofer/Hug 2010; Bütikofer 2014).
3. Die Verbindung von Miliz- und professioneller Verwaltung: Das Milizsystem ist nicht einfach eine ältere Form von Verwaltung, die durch eine «modernere» professionelle Aufgabenerfüllung abgelöst wird. Vielmehr gehen professionelle und Milizverwaltung situationsbedingt stets neue Verbindungen ein. Bei den Gemeinden z. B. findet Geser (1987) einen deutlichen Zusammenhang zur Grösse. Erwartungsgemäss sind kleine Gemeinden fast ausschliesslich milizmässig organisiert, während bei den grösseren die professionelle Verwaltung dominiert. Allerdings verschwindet bei den grösseren Gemeinden die Milizverwaltung nicht: Auch diese nutzen weiterhin die Möglichkeiten des Milizsystems kreativ für neue politische Funktionen und Einzelaufgaben. Entsprechend findet sich z. B. eine grosse Typenvielfalt in der Verbindung haupt- und nebenberuflicher Ämter in den Gemeindeexekutiven. Bei eidgenössischen Parlamentariern, die nach wie vor einem Beruf ausserhalb der Politik nachgehen, tut sich ein Dilemma auf: Milizparlamentarier fühlen sich näher am Puls der Bevölkerung, sind aber auch abhängiger in der Informationsbeschaffung durch Dritte.
4. Soziale Selektivität: Die grosse Offenheit des Milizsystems für die Rekrutierung politischer Eliten durch demokratische Wahl oder Ernennung führt nicht zu einer entsprechenden sozialen Offenheit. Vielmehr ist auf allen Ebenen eine deutliche Untervertretung unterer Bildungs- und Einkommensschichten sowie einfacher Berufsgruppen zu beobachten. Das mag mit fachlichen Anforderungen zusammenhängen, welche die Milizangehörigen eben als «Funktionseliten» prägen. Ein zweiter wichtiger Umstand kommt dazu. Die Unentgeltlichkeit oder bloss teilweise Entschädigung führt zu einer sozialen Diskriminierung, die oft übersehen wird: Arbeit für die Öffentlichkeit ohne Einkommen setzt privates Einkommen ohne Arbeit voraus. Damit erschwert das Milizsystem – je nach Stufe und Aufgabe – den Zugang unterer Schichten, von Alleinverdienenden und zum Teil auch von Selbständigerwerbenden.
5. Rekrutierungsprobleme: Während in der kantonalen und nationalen Politik noch kein Personalmangel herrscht, scheint die Lokalpolitik von einer sinkenden Bereitschaft zum öffentlichen Engagement betroffen (Müller 2015a). Nach Befragungen von Geser et al. (2003:30 ff.) können die schweizerischen Lokalparteien zwar ihre Anhängerschaft insgesamt halten, die Zahl der aktiven Mitglieder hingegen ist deutlich zurückgegangen. Neun von zehn Lokalparteien finden es schwierig, ihre Parteiämter zu besetzen, und jede zweite beklagt einen Mangel an Kandidierenden für den Gemeinderat. Als Hauptursache dieser schleichenden Krise des Milizsystems wird in der öffentlichen Diskussion ein rückläufiges Interesse an der Lokalpolitik genannt. Dies wiederum könnte vielerorts mit der gestiegenen geografischen Mobilität der Bevölkerung zu tun haben. Dass der höhere wirtschaftliche Druck seit den 1990er-Jahren Arbeitgeber zunehmend davon abgehalten hat, Personen für öffentliche Ämter freizustellen, mag ebenfalls eine Rolle spielen. Verschärfend auf das Rekrutierungsproblem wirkt sich aus, wenn Gewählte nicht mehr so lange in ihren Ämtern verweilen wie früher (Geser et al. 2011). Eine Folge davon sind oft Gemeindefusionen.
6. Intransparenz von Leistung und Gegenleistung: In der Nutzung ziviler Fähigkeiten der Gesellschaft durch das politische System liegt einer der Hauptvorteile des Milizsystems. Sie hat auch ihre Kehrseite. Mit der engen Verflechtung ziviler und politischer Funktionen werden auch Leistung und Gegenleistung intransparent. Wer sich für politische Ämter zur Verfügung stellt, wird Gegenleistungen erwarten, z. B. Einfluss, Prestige oder Entschädigung. Berufsmässige Politik entschädigt direkt, und als Gegenleistung zum Lohn gibt es auch Unvereinbarkeitsregeln oder Ausstandspflichten, mit denen Interessenkollisionen zwischen privaten und öffentlichen Interessen des Berufspolitikers vermieden werden. Nicht so im Milizsystem. Es gibt keine angemessene Entschädigung. Ausstandsregeln und Unvereinbarkeiten können von einer Amtsperson weniger verlangt werden, wenn sie bloss nebenberuflich für die Politik arbeitet. Mehr noch: Das Ziel des Milizsystems, die hauptberuflichen Beziehungen und Fähigkeiten der Politikerin zu nutzen, provoziert gerade Interessenkollisionen. Vom Gärtnermeister, der im Gemeinderat sitzt, wird zwar bei der Vergabe von Gärtnerarbeiten durch die Gemeinde erwartet, dass er hier besonders sorgsam zwischen dem öffentlichen und seinem persönlichen Interesse unterscheide. Dieselbe Erwartung gilt für die Parlamentarierin, die Verwaltungsratsmandate von Banken innehat und in der vorberatenden Kommission für die Revision des Bankrechts mitwirkt. Die mögliche Kollision von «privatem» und «öffentlichem» Interesse im Milizsystem verlangt von den Amtsträgern die Bereitschaft, öffentliche und private Rollen zu trennen. Die öffentliche Meinung fordert eine moralische Standfestigkeit, sich nur jene Vorteile zu verschaffen, die auch öffentlich vertretbar sind. Aber dieselbe öffentliche Meinung zeigt sich schizophren, wenn sie von Milizpolitikern die Vermischung verschiedener öffentlicher Interessen verlangt: Schickt die Wählerschaft einen Regierungsrat ins eidgenössische Parlament, so wird er nicht selten dazu aufgefordert, für den eigenen Kanton besondere Vorteile herauszuholen. Diese Situation geht über ein persönliches Dilemma hinaus, denn das Milizsystem selbst ist ambivalent. Es provoziert ungewollte Interessenkollisionen, legitime und weniger legitime Interessenverflechtungen. Statt direkter Bezahlung fördert es indirekte und oft intransparente Entschädigung von Leistungen. Die scheinbar höhere Unabhängigkeit des unbelohnten Bürgerpolitikers hat also auch ihren Preis.
2. Medien und politische Öffentlichkeit
Politik findet im ständigen Informationsfluss zwischen Gesellschaft und politischen Entscheidungsträgern statt. Letztere versuchen, über die politische Kommunikation in der Öffentlichkeit Verständnis sowie Unterstützung für ihre Absichten und Handlungen zu gewinnen. In der Gesellschaft selbst formieren sich Meinungen, Tendenzen und Forderungen, die auf grössere Verbreitung und Wirkung in der Öffentlichkeit drängen. Hier liegt eine zentrale Funktion der Medien: Sie tragen Bedeutsames zur Konstituierung einer «politischen Öffentlichkeit» und zur politischen Meinungsbildung bei (Jarren/Donges 2006). Letztere findet zwar auch in der Familie, im Bekanntenkreis und am Arbeitsplatz statt, aber vor dem Hintergrund einer öffentlichen Meinung und einer politischen Meinungsbildung, die vornehmlich medial vermittelt wird. Dazu gehören vor allem Selektionsleistungen: Medien wählen aus dem kontingenten Strom von Ereignissen aus, was sie für ihre Kunden als «wichtig» erachten; sie unterscheiden Rubriken von «Wirtschaft», «Gesellschaft», «Sport» oder «Politik». Die Zeitungen halten ihrer Leserschaft täglich die Handlungsstrukturen der Politik vor Augen, und zwar schon durch die blosse Gliederung in einen «Ausland-» und einen «Inlandteil», der wiederum mit «Bund», «Kantonen» und «Lokalem» etikettiert ist. Medien berichten die Ereignisse aus politischen Institutionen, die Reaktionen des Publikums, sie haben ein Sensorium für neue Entwicklungen und Trends, sie recherchieren, verbinden Ereignisse und Persönliches zu Geschichten, sie lancieren neue politische Themen oder Personen und setzen andere ab. Medien kommentieren, vermitteln Zusammenhänge und Orientierung, nehmen Partei, beeinflussen die politische Agenda oder verstärken Trends in der öffentlichen Meinung: den Bereich des Für-«bedeutsam»-, «wahr»- oder «richtig»-Haltens.
Die schweizerischen Medien stehen wie überall in einem rasanten Strukturwandel, der von wirtschaftlicher Konzentration und technischen Veränderungen geprägt