Digitalisierung und Lernen (E-Book). Erik Haberzeth
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Bei der Diskussion von cyber-physical systems findet sich dementsprechend die Feststellung, dass aufgrund der physikalischen «Unschärfen» die Umwelt- und Prozessbedingungen technischer Anlagen nicht vollständig erfasst, geplant und beeinflusst werden können. Die physische Welt ist demnach im Vergleich zur Cyberwelt der Software nicht vollständig durch explizite Informationen beschreibbar und erfassbar. Je mehr sich die Digitalisierung zudem nicht nur auf die physikalische Welt, sondern auch auf die soziale Welt richtet und sich zu soziotechnischen Systemen entwickelt, so wie dies beispielsweise bei Verkehrssystemen und Dienstleistungen der Fall ist, desto komplexer und uneindeutiger wird deren informationstechnische Erfassung.
Aber auch bei expliziten Informationen können solche Uneindeutigkeiten auftreten. Bekannt ist dies beispielsweise bei Übersetzungsprogrammen. Ihre Erfolge beschränken sich im Wesentlichen auf sachbezogene Texte, bei denen die Bedeutung einzelner Wörter sowie die jeweiligen Kontexte, in denen sie verwendet werden, vergleichsweise eindeutig definiert sind. Solche Programme scheitern jedoch bei poetischen Texten, in denen Wörter und Formulierungen neben ihrer expliziten Bedeutung vor allem einen impliziten, assoziationsbezogenen Bedeutungshorizont haben. So kann die Formulierung «ein sonniger Tag» sowohl auf das physikalisch beschreibbare Wetter als auch auf eine bestimmte emotionale Atmosphäre und Stimmung verweisen. Was hiermit angesprochen werden soll, ergibt sich jedoch nur aus dem Kontext oder kann gegebenenfalls auch bewusst offen gelassen werden, sodass es letztlich den Rezipierenden überlassen bleibt, was sie hier jeweils «heraus lesen». Doch auch bei sachbezogenen Texten selbst im technischen Bereich sind schriftliche Formulierungen keineswegs immer eindeutig, sondern erfordern ein kontextbezogenes Wissen, um ihre Bedeutung zu verstehen. Ein Beispiel sind Konstruktionszeichnungen, die unter Bezug auf die praktische Umsetzung immer auch offene Stellen oder Möglichkeiten für Alternativen beinhalten (vgl. Bolte 2017, S. 119 ff.).
In der neueren Diskussion und Entwicklung künstlicher Intelligenz wird versucht, das Problem der Uneindeutigkeit und Vieldeutigkeit von Informationen durch die Strategie der Big Data und das induktive Erfassen von Algorithmen zu bewältigen. Dies richtet sich letztlich darauf, in der Vielfalt der empirisch beobachtbaren Phänomene standardisierbare und typisierbare Situationen und Kontexte zu identifizieren. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass bereits Beispiele und Erfahrungen zu jeweils bestimmten kontextbezogenen Bedeutungen vorliegen, diese ausgewertet und die Ergebnisse auf gegebenenfalls zukünftige Situationen übertragen werden können. Im Fall von Übersetzungsprogrammen heißt dies, dass bereits vorliegende, nicht technisch erzeugte Übersetzungen ausgewertet werden. Überträgt man dies auf implizite, in konkrete Gegebenheiten eingebundene Informationen, wie beispielsweise Geräusche, so ist beziehungsweise wäre es notwendig, eine Vielzahl empirischer Dokumentationen über Zusammenhänge zwischen Geräuschen und technischen Verläufen zur Verfügung zu haben. Um zu verhindern, dass dabei ex ante bereits eine Selektion der Informationen erfolgt, müssten diese Dokumentationen akustisch sein. Um nicht ex ante mögliche Informationen abzuspalten, wäre nicht nur die messbare Frequenz und Lautstärke, sondern auch die Klangfarbe zu dokumentieren sowie allenfalls auch der jeweilige Kontext, in dem die Geräusche entstehen.[4]
2Verborgene Seiten menschlicher Arbeit
Wie praktische Erfahrungen und empirische Untersuchungen zeigen, sind Menschen in der Lage, auch bei unzureichenden Informationen erfolgreich Ziele zu erreichen und Probleme zu lösen. Dabei sind allerdings Handlungsweisen und Kompetenzen maßgeblich, die im bisherigen Verständnis von Arbeit und Bildung kaum auftauchen.
2.1Objektivierendes Handeln als Leitbild
Die Planmäßigkeit und rationale Regulierung des Handelns gilt als charakteristisch für Arbeit. Ein solches Handeln kann als objektivierendes Handeln bezeichnet werden, da es sich an – im Prinzip – allgemeinen, subjektunabhängig darstellbaren und explizierbaren Regeln, Wissen und Informationen orientiert. Der informationstechnische Zugang zu Informationen korrespondiert hiermit und gründet hierauf den Anspruch und das Versprechen, die «Welt, so wie sie ist» erfassen zu können. In einer übergreifenden Perspektive korrespondiert dies mit einem rationalen, naturwissenschaftlich geprägten Weltbild, so wie es in modernen Gesellschaften entstanden ist. Auch wenn sich die Geistes-, Human- und Sozialwissenschaften gegenüber dem naturwissenschaftlichen Blick auf die Welt abgrenzen, so eint sie doch die Orientierung an einem «objektivierenden Verhältnis zur Welt» und entsprechend objektivierenden Informationen und Wissen. Das subjektive Erleben und Empfinden wird dabei keineswegs ausgeschlossen. Es bezieht sich jedoch bei dieser Sicht ausschließlich auf die subjektive «Innenwelt» und gibt keine Auskunft über die objektive bzw. objektivierbare «Außenwelt» (vgl. Schmitz 1990; Böhle, Porschen 2012). Und schließlich korrespondiert auch der Anspruch, konkrete Gegebenheiten in der Natur ebenso wie im Sozialen und Kulturellen durch Algorithmen erfassen zu können, mit der von Max Weber als typisch für moderne Gesellschaften herausgestellten Überzeugung «alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen» beherrschen zu können (Weber 1988, S. 594). Die zuvor umrissenen Grenzen der Digitalisierung verweisen demgegenüber jedoch auch auf Grenzen eines solchen objektivierenden Zugangs zur Welt. Im Folgenden sei dies mit einem erweiterten Blick auf menschliche Arbeit und menschliches Handeln ergänzt und vertieft begründet.
In der neueren wissenschaftlichen Diskussion wird die Vorstellung, dass nur durch ein planmäßig-rationales Handeln und systematisches Wissen erfolgreich Ziele erreicht und Probleme gelöst werden können, in mehrfacher Weise modifiziert. Zu nennen sind hier insbesondere die Konzepte des nicht verbalisierbaren, inkorporierten «impliziten Wissens» (Polanyi 1985), die mentalen Heuristiken und auf «Bauchgefühlen» beruhende «Intuition» (Gigerenzer 2007) des nicht planmäßigen, «situierten Handelns» (Suchman 2007) und einer hierauf beruhenden Könnerschaft (Neuweg 2015) sowie der auf die besondere «Logik» der Praxis ausgerichtete «praktische Sinn» (Bourdieu 1987; Alkemeyer 2009). Daran anknüpfend und weiterführend akzentuieren wir im Besonderen die Wahrnehmung von Informationen. Im Rahmen des objektivierenden Handelns beruht die menschliche Wahrnehmung auf dem sensomotorischen Registrieren von Daten aus der Umwelt und deren geistigen Deutung und Interpretation – so wie dies bereits Kant in der Feststellung zum Ausdruck gebracht hat, dass nur die verstandesmäßig geleitete, rationale Begriffsbildung der empirischen Wahrnehmung «einen Sinn» verleiht (vgl. Münch 1992, S. 201). Die menschliche Wahrnehmung beschränkt sich jedoch nicht hierauf, und zwar gerade auch dann nicht, wenn es darum geht, Ziele zu erreichen und Probleme zu lösen. Unter Bezug auf das zuvor umrissene Phänomen der Uneindeutigkeit von Informationen sei dies am Beispiel der spürenden und empfindenden Wahrnehmung näher ausgeführt. Hierdurch werden Informationen über «objektive» Gegebenheiten zugänglich, die durch einen allein objektivierenden Zugriff ausgeblendet werden.
2.2Spürende und empfindende Wahrnehmung
In phänomenologischen Theorien wird die menschliche Wahrnehmung als ein Teilnehmen und Partizipieren an der Umwelt begriffen (vgl. Merleau-Ponty 1966). Grundlegend hierfür sind die leibliche Verbundenheit mit der Welt und die leibliche Resonanz. Äußere Gegebenheiten werden dabei nicht nur sensomotorisch registriert und verstandesmäßig verarbeitet, sondern körperlich und leiblich ge- sowie erspürt. Über eine «leibliche Kommunikation» (Schmitz 1978 u. 1990) werden Eigenschaften und Verhaltensweisen der Außenwelt auf körperlich-leibliche Qualitäten bezogen und «einverleibt». Im Arbeitsbereich werden dementsprechend Geräusche an technischen Anlagen von Fachkräften nicht nur in ihrer Lautstärke und Frequenz wahrgenommen, sondern auch als «warm» oder «schmerzhaft» und in dieser Weise als Information über Bearbeitungsvorgänge genutzt (vgl. Carus; Schulze 2017, S. 91 ff.). Zugleich wird auch das sinnlich Wahrnehmbare selektiv gefiltert und differenziert. So werden unabhängig von der