Prozess und Philosophie des Helfens. Edgar H. Schein
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Formale Hilfe, das lehren Intuition und Erfahrung, erfordert ein gewisses Maß an Verständnis und Vertrauen zwischen Helfer und »Klient«, wie ich die Person nenne, die Hilfe sucht. Verständnis ist nötig, damit der Helfer weiß, wann und welche Hilfe er anbieten sollte. Vertrauen ist nötig, damit der Klient sein wahres Problem benennen, die angebotene Hilfe akzeptieren und die Lösung umsetzen kann, die sich im das Gespräch mit dem Helfer abzeichnet.
Die psychotherapeutische Literatur widmet dem Aufbau dieses Vertrauen viel Aufmerksamkeit, aber in der alltäglichen Routine des Helfens und Hilfe Annehmens ist unklar, wie man es aufb aut, wie man erkennt, dass es vorhanden ist, und wie man es aufrecht erhält. Dazu kommt, dass die meisten helfenden Situationen im Alltag unerwartet auftauchen und zeitlich begrenzt sind. Die Frau, die ihrem Mann helfen soll, den richtigen Anzug für das entscheidende Gespräch mit dem Chef auszusuchen, setzt sich ja nicht mit ihm zu einer Besprechung zusammen, wie sie ein Therapeut beim Erstgespräch führt. Wer einem Blinden Hilfe beim Überqueren der gefährlichen Kreuzung anbietet, denkt nicht über den Aufb au einer vertrauensvollen Beziehung nach, bevor er seinen Arm ergreift und mit ihm losgeht. Und selbst dann kann es passieren, dass der Blinde »Nein, danke« sagt und sich allein auf den Weg macht. Dann steht man da und fragt sich, ob man ihn beleidigt hat und ob die Ablehnung der Hilfe unnötige Gefahren für ihn mit sich bringt. Wie könnte man es herausfinden?
Eine allgemeine Theorie des Helfens ist nur dann sinnvoll, wenn sie den Unterschied zwischen effizienter und ineffizienter Hilfe in allen, auch den einfachsten Situationen erklären kann, etwa, wenn jemand nach dem Weg fragt. Um die Elemente einer solchen Theorie zu entwickeln, muss man die einzelnen Beziehungen analysieren und klären, was man unter Vertrauen versteht.
An Anfang steht die These, dass es bei allen menschlichen Beziehungen um Positionierung, Status und »Situationsangemessenheit«, geht, wie es die Soziologen nennen. Es ist menschlich, den Rang einnehmen zu wollen, der einem in den eigenen Augen gebührt, egal, ob hoch oder niedrig, und jeder will sich so verhalten, wie es in der Situation angemessen ist. Wir wollen besser oder zumindest genauso gut sein wie der andere und beurteilen alle Interaktionen danach, was wir dadurch gewinnen oder verlieren. Eine erfolgreiche Interaktion, das Gefühl, etwas erreicht zu haben, ist Ergebnis eines dem Ziel angemessenen Handelns. Im Idealfall ist das Ziel eins, bei dem alle Beteiligten gewinnen können.
Die helfende Situation zeichnet sich dadurch aus, dass man bewusst versucht, einem anderen zu helfen, seine Ziele zu erreichen. In der helfenden Beziehung werden Zeit, Gefühle, Ideen und Dinge investiert und deshalb wird eine Gegenleistung, und sei es nur ein Dank, erwartet. Geht alles gut, haben beide an Status gewonnen. Leider geht es oft nicht gut, und dann riskieren wir, Status zu verlieren – weil wir nicht geholfen haben, wo Hilfe angebracht gewesen wäre, weil wir Hilfe dort angeboten haben, wo sie nicht gebraucht oder gewünscht war, weil wir falsch oder nicht lange genug geholfen haben.
In diesem Buch analysiere ich die Dynamik der helfenden Beziehung, erkläre die Bedeutung des Vertrauens und erläutere, was jeder potentielle Helfer wissen muss, um tatsächlich helfen zu können, und was jeder Hilfesuchende tun kann, um den Prozess zu fördern. Ich glaube mittlerweile, dass die soziale und psychische Dynamik des Helfens immer die gleiche ist, ob es darum geht, jemandem den Weg zu erklären, eine Führungskraft zu coachen oder einen kranken Ehepartner zu pflegen. Deshalb stelle ich zahlreiche Beispiele aus meiner persönlichen und beruflichen Erfahrung vor. Geholfen wurde mir in der Psychotherapie, durch Tennisstunden und auf zahllose andere Weise. Geholfen habe ich als Ehemann, als Vater von drei Kindern und Großvater von sieben Enkeln, als Lehrer, als Berater von einzelnen Klienten und von Organisationen und als jahrelanger Pfleger meiner an Brustkrebs erkrankten Frau. Erst wenn man die Ähnlichkeiten all dieser verschiedenen Situationen erkennt, kann man eine umfassende Theorie des Helfens entwickeln.
Intellektuelle Wurzeln und der Aufbau des Buches
Dieses Buch ist eher ein Essay als eine wissenschaftliche Abhandlung. Dank meiner Ausbildung am Harvard Department of Social Relations habe ich mich viel mit Soziologie und Anthropologie beschäftigt, zwei Disziplinen, die nach meiner Meinung in unseren sozialen und psychologischen Analysen gesellschaft licher Phänomene eine zu geringe Rolle gespielt haben. Vor allem die Chicagoer Schule ist bei der Analyse des Helfens wichtig. Erving Goffman (1959, 1963, 1967) hat den dort von Cooley (1922), Mead (1934), Hughes (1958 und Blumer 1971) formulierten Ansatz des »symbolischen Interaktionismus« durch seine höchst aufschlussreichen Mikroanalysen des Sozialverhaltens auf brillante Weise weiterentwickelt. Mit Goffman habe ich am Walter Reed Institute of Research, wo er von 1953 bis 1956 als Berater tätig war, eng zusammengearbeitet und mich auch in der Zusammenarbeit mit dem Soziologen John van Maanen (1979) darauf konzentriert.
Weitere wesentliche Erkenntnisse verdanke ich meiner jahrzehntelangen Arbeit am National Training Lab (Bradford 1974; Schein & Bennis 1965), wo ich Encountergruppen leitete und an der Entwicklung des Lernlabors in Bethel, Maine, mitarbeitete. Diese Forschergeneration hatte neben dem großen persönlichen Gewinn, den die Gruppenarbeit brachte, auch einen enormen Einfluss auf Gruppendynamik und Führung. Besonders erwähnt seien Doug McGregor, Lee Bradford, Ken Benne, Ro und Gordon Lippitt, Herbert Shepard, Warren Bennis, Jack Gibb, Chrys Argyris, Edie und Charlie Seashore und Dick Beckhard.
In der Arbeit mit dieser Gruppe und den gemeinsam entwickelten Workshops standen die interpersonalen Prozesse im Mittelpunkt. Die Konzentration auf den Prozess und den symbolischen Interaktionismus half mir bei der Entwicklung meines eigenen Beratungsstils, der Prozessberatung (Schein 1969, 1999), und durch meine umfassende Erfahrung in der Beratung habe ich gelernt, dass Helfen nicht nur ein wichtiger Bestandteil der Organisationsberatung, sondern ein zentraler sozialer Prozess ist, der der Analyse bedarf.
Dieses Buch fasst Erfahrungen, mit denen wir alle vertraut sind, in Begriffe. Da es sich nicht um ein wissenschaftliches Werk handelt, habe ich mich nicht bemüht, die gesamte Literatur zu diesem Thema darzustellen. Es geht mir um praktische Erkenntnis, darum, Helfen und die dazu nötigen Fähigkeiten zu verstehen. Der Leser sollte wissen, dass sich heute die meisten Analysen von Helfen, Coaching und Beratung auf die psychologischen Faktoren konzentrieren, etwa Temperament und Persönlichkeit. So wichtig das auch ist, so ist es meiner Meinung nach für das Verständnis der helfenden Beziehung entscheidend, sie aus kultureller und soziologischer Perspektive zu betrachten.
Der Humorist Stephen Potter (1950, 1951) kannte die Regeln der sozialen Interaktion sehr genau und hat satirisch beschrieben, wie man mit diesen Regeln Status gewinnt und Konkurrenten aus dem Feld schlägt. Die Beispiele, die er in seinen Büchern bringt, mögen Karikaturen sein, spiegeln aber erkennbar die ständigen Beobachtungen in unserer Umgebung. Und es ist kein Zufall, dass diese Form des Bluffens heute sprichwörtlich geworden ist, zeigt sie doch, dass Statusrituale universell benutzt werden, um soziale Ziele zu erreichen.
Da Helfen eine besondere Form der Beziehung ist, muss man auch seine besonderen Merkmale berücksichtigen. Anregung dazu verdanke ich auch den bahnbrechenden Arbeiten von Ellen Langer, insbesondere ihrem Buch Mindfulness (1989), das aus der Innensicht erklärt, was Goffman so effektiv auf der interpersonalen Ebene untersucht hat.
Natürlich hat meine Grundthese, dass ein Teil des sozialen Lebens Wirtschaft und der andere Teil Theater ist, eine lange Tradition in Wissenschaft und Philosophie. Es gibt nicht viele kulturelle Universalien, aber in allen Gesellschaften, darin ist sich die Anthropologie einig, gibt es Schichten, und alles soziale Verhalten ist reziprok. Auf diese beiden soziologischen und anthropologischen Prämissen stütze ich meine Beobachtungen und Thesen zum helfenden Prozess. Sie ermöglichen durch ihren etwas anderen Blick auf soziale Interaktionen und auf die Rolle des Helfens im Alltag ein besseres Verständnis.