Prozess und Philosophie des Helfens. Edgar H. Schein

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Prozess und Philosophie des Helfens - Edgar H. Schein

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style="font-size:15px;">      In der Umgangssprache bezeichnet man diesen Wert als »Image«. Jeder Beteiligte an einer Interaktion beansprucht ein gewisses Maß an Image, und die Regeln der Gegenseitigkeit erfordern, dass dieser Anspruch von den anderen Beteiligten akzeptiert und bestätigt wird. Mit der Bemerkung: »Ich will dir etwas sagen«, erhebe ich den Anspruch, etwas zu wissen, was meiner Meinung nach für den Gesprächspartner von Wert ist. Damit ist der andere dafür verantwortlich, zuzuhören und den Mund zu halten, er schuldet mir Aufmerksamkeit. Hier kommt wieder das Wort »schulden« ins Spiel. Man spricht auch von »Investitionen« in eine Beziehung, das heißt, man erarbeitet sich soziales Kapital, auf das man später, wenn man zum Beispiel um einen Gefallen bittet, zurückgreifen kann.

      Wenn man beschließt, den Anspruch des anderen nicht zu akzeptieren und ihn ignoriert oder in Verlegenheit bringt, beschädigt man sein Image und erweist sich selbst als unhöflich oder aggressiv. So gesehen ist es eine kulturelle Binsenwahrheit, dass durch die mangelnde Anerkennung eines Anspruchs beide Beteiligten ihr Gesicht verlieren. Man kann die Ansprüche des anderen aber auch höflich akzeptieren und gleichzeitig durch kluges Reden oder Verhalten einen höheren Status beanspruchen, d.h. die Anerkennung des eigenen höheren Anspruchs fordern. Soziale Interaktion ist also entweder ein komplizierter Balanceakt im Dienste der wechselseitigen Imagepflege oder eine Möglichkeit, Status zu gewinnen.

      Situationsabhängige Rollen und Regeln haben sogar Vorrang vor eigenen formalen Werten. So bringt man zum Beispiel einem Kind nicht nur bei, immer die Wahrheit zu sagen, sondern erklärt ihm auch, dass es die stark übergewichtige Nachbarin trotzdem nicht als »dicke Frau« bezeichnen darf. Es gehört zum Prozess des Heranwachsens, dass man lernt, wann Offenheit und wann Diplomatie angebracht ist und was man am besten übersieht und überhört. Aber eben diese Fähigkeit zur Zurückhaltung und Lüge wirft in Beziehungen die Vertrauensfrage auf. Aufrichtigkeit, Kongruenz und Vertrauenswürdigkeit sind die Maßstäbe, mit denen man beurteilt, wie weit jemand über seine verschiedenen Rollen hinweg als beständig wahrgenommen wird und wie sehr das Image, das er sich nach außen gibt, zu seinen inneren Werten passt.

      Im Erwachsenenalter beherrschen wir eine Unzahl verschiedener Rollen und Skripte und können die ganz unterschiedlichen vorgegebenen oder selbst geschaffenen Situationen und Beziehungen, mit denen wir jeden Tag konfrontiert sind, problemlos identifizieren und bewältigen. Diese kulturelle Dynamik spielt, wie wir sehen werden, in der helfenden Situation eine entscheidende Rolle, denn Klient und Helfer begegnen sich mit einem von ihnen selbst festgelegten Maß an Image. Die weitere Entwicklung der helfenden Situation hängt oft von dem Wert ab, den der Klient dem Helfer und der Helfer dem Klienten zubilligt, und das wiederum ist von ihrem wechselseitigen Vertrauen abhängig. Im Folgenden werde ich diese Dynamik näher untersuchen.

       Soziale Ökonomie: Bewahrung der gesellschaftlichen Ordnung

      Alle Kulturen sind von den Regeln des Ausgleichs und der Gegenseitigkeit geprägt, die festlegen, welchen Wert wir uns in Beziehungen beimessen. Was aber sind die sozialen Währungen für diesen Austausch? Die Antwort lautet: Liebe, Aufmerksamkeit, Anerkennung, Akzeptanz, Lob und Hilfe. Hilfe im umfassenden Sinne des Wortes ist dabei eine der wichtigsten Währungen, weil sie besonders geeignet ist, Liebe und andere fürsorgliche Gefühle auszudrücken. Informelle Hilfe gilt häufig als so selbstverständlich, dass wir sie kaum bemerken und selten als solche erkennen. Sie fällt nur auf, wenn sie ausbleibt, und wir reagieren negativ auf die Person, die sie uns verweigert hat. Mit anderen Worten: Bittet jemand um Hilfe, sind wir verpflichtet zu helfen oder eine angemessene Entschuldigung vorzubringen. Und umgekehrt sind wir verpflichtet, ein Angebot zur Hilfe anzunehmen oder eine passende Entschuldigung vorzutragen. Die Bitte erfordert die Reaktion, das Angebot den Dank. Jemanden als nicht hilfsbereit zu bezeichnen, hat eindeutig negative Konnotationen und stellt die Zuverlässigkeit des Betreffenden als Mitglied der Gruppe infrage.

      Der Wert, den wir uns und anderen zumessen, wird durch unser soziales Verhalten vermittelt, durch die Entscheidungen, die wir treffen, und das Image, das wir projizieren. Die ungeschriebenen ökonomischen Regeln, die festlegen, wie viel man beanspruchen kann und wie stark man das Image des Beanspruchenden wahren muss, unterscheiden sich je nach Kultur und Umständen, aber die Alltagssprache zeigt deutlich, dass es sich bei der sozialen Interaktion um ein ökonomisches Phänomen handelt.

      Die Sprache, die wir alltäglich benutzen, ist verräterisch: Wir schenken Aufmerksamkeit, zollen Respekt, lösen gesellschaftliche Verpflichtungen ein, spenden Lob und zahlen die Zeche. Auch das Konzept von Kauf und Verkauf gehört zum Alltagsvokabular: Wir verkaufen uns unter Wert, kaufen jemandem eine Geschichte ab oder auch nicht und fragen uns sarkastisch, welche Meinung man uns wohl heute wieder verkaufen will. Zahllose Begriffe beziehen sich darauf, wie man gibt und nimmt und diese Transaktionen im Auge behält: Man verlangt, was einem gebührt oder fühlt sich übervorteilt, jemand ist einem die Antwort schuldig geblieben, und wer viel Zeit und Mühe aufgewandt hat, fühlt sich möglicherweise um die Gegenleistung betrogen. Und ganz unabhängig vom Geld leiht man jemandem sein Ohr oder bietet ihm die Schulter zum Ausweinen an. Es gibt zahllose Metaphern für den gesellschaftlichen Austausch: Auge um Auge, Zahn um Zahn, ich habe mit ihm noch eine Rechnung offen, er hat bekommen, was er verdient, eine Hand wäscht die andere, usw.

      Wie sehr diese ökonomischen Prozesse verwurzelt und ritualisiert sind, zeigt sich noch in den trivialsten Alltagsinteraktionen. Wenn der Bettler die Münze, die man ihm gegeben hat, nicht anerkennt, fühlt man sich betrogen. Der soziale Ausgleich lässt sich dann entweder dadurch wiederherstellen, dass man psychologisch den eigenen Wert steigert – etwa durch die Bemerkung zu einem Begleiter: »War ich nicht mal wieder großzügig?« – oder den Wert des anderen herabsetzt – etwa mit der Bemerkung: »Was für ein undankbarer Kerl!« Solange die Situation nicht ausgeglichen ist, bleibt ein vages Unbehagen; man will sein Gesicht nicht verlieren, oder, allgemeiner gesagt: das Selbstwertgefühl basiert darauf, dass der andere die Berechtigung des eigenen Anspruchs akzeptiert. Das kann durch eine Körperhaltung geschehen, die Aufmerksamkeit vermittelt, oder auch nur durch ein bestätigendes Nicken.

      Dieser anhaltende Prozess wechselseitiger Verstärkung ist das Wesen der Gesellschaft . Was wir als gutes Benehmen oder Manieren bezeichnen, ist im Alltag eine kulturelle Notwendigkeit. Jeder kennt die Spannung, die entsteht, wenn man in einer fremden Kultur die Regeln der wechselseitigen Bestätigung nicht kennt. Regelbrüche, die nicht sofort zurückgenommen werden, führen zu einem Gefühl von Demütigung und Beleidigung. Wer bewusst das Image eines anderen verletzt, demütigt ihn, erregt Anstoß und wird in Zukunft gemieden. Wer ständig gegen diese sozialen Regeln verstößt, gilt als »geisteskrank« und wird eingesperrt. Anders ausgedrückt: Würden diese Regeln nicht mehr beachtet und die wechselseitige Anerkennung bliebe aus, käme es zu einem rasanten Anstieg von Individualismus, Konkurrenz und Brutalität, und die Angst in der Gesellschaft stiege ins Ungeheuerliche.

      Um zu verstehen, wie stark diese Regeln sind, reicht ein kleines soziales Experiment: Versuchen Sie einmal, nicht zu reagieren, wenn Ihnen ein Freund oder Partner etwas erzählt – also kein Nicken, keine Mimik, kein Wort. Nach höchstens fünf bis zehn Sekunden wird Ihr Gegenüber Sie fragen, ob irgendetwas los sei, ob es Ihnen nicht gut gehe, ob Sie nicht zugehört hätten, oder Ihnen auf andere Weise zeigen, dass Ihr Benehmen nicht akzeptabel ist. Ihr Verhalten hat das soziale Gefüge zerrissen, und das bedarf einer Erklärung oder Entschuldigung, zum Beispiel: »Tut mir leid, ich habe gerade an etwas anderes gedacht.« Die sozialen Regeln verlangen eine legitime Entschuldigung, ob sie der Wahrheit entspricht oder nicht. Nicht legitim wäre zum Beispiel: »Es interessiert mich nicht, was du zu sagen hast.«

      Wenn der soziale Austausch nicht richtig funktioniert, weil die Beteiligten die Situation unterschiedlich definieren und entsprechend unterschiedliche Währungen benutzen, führt das zu Angst, Spannung, Zorn, Unbehagen, Verlegenheit, Scham- und/oder Schuldgefühlen. Das Verhältnis von Geben und Nehmen wird von einem oder beiden Beteiligten als ungerecht empfunden: »Ich bin zu dem Berater gegangen, damit er mir hilft , aber er hat die ganze Zeit nur geredet und ich konnte

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