Prozess und Philosophie des Helfens. Edgar H. Schein
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Ein Sozialarbeiter hilft einer Familie, eine wirtschaftliche Krise zu bewältigen
Ein Psychotherapeut unterstützt seinen Klienten bei der Bewältigung von Verhaltens-oder emotionalen Problemen
Ein Pfarrer hilft einem Gemeindemitglied beim Umgang mit Schuld, Trauer oder Angst
Ein Arzt stellt einem Patienten die Diagnose und verschreibt Medikamente
Ein Beerdigungsunternehmer hilft einer trauernden Familie, mit dem Tod fertig zu werden
Ein Berater bemüht sich, die Abläufe in einer Organisation zu verbessern
Abb. 1: Die vielfältigen Formen der Hilfe
Anbieten / Anleiten / Befähigen
Beistehen / Beraten / Coaching
Consulting / Counseling / Empfehlen
Erklären / Fördern / Geben
Haushalt führen / Katalysieren / Kümmern
Lehren / Liefern / Mentoring
Pflegen / Rat geben / Steuern
Stützen / Überreichen / Verbessern
Verschreiben / Versichern / Aufklären
Abb. 2: Andere Begriffe für Helfen
Helfen ist ein gesellschaftlicher Prozess
Hilfe wird gegeben und angenommen, und deshalb konzentriere ich mich auf die Frage, wie die helfende Beziehung definiert und verstanden werden kann. Dieser Fokus führt wiederum zu einer Diskussion über Beziehung im Allgemeinen. Was bedeutet eine gute Beziehung, in der wechselseitiges Vertrauen und offene Kommunikation möglich sind?
Alle Beziehungen werden von kulturellen Regeln bestimmt, die vorgeben, wie man sich in der Beziehung zu anderen zu verhalten hat, damit es zu einem gefahrlosen und produktiven sozialen Austausch kommt. Wir bezeichnen diese Regeln als gutes Benehmen, Takt und Manieren. Dieser Ebene des offenen Verhaltens liegen feste Regeln zugrunde, die eingehalten werden müssen, wenn die Gesellschaft funktionieren soll. Manche sind situationsabhängig, aber es gibt in jeder Kultur eine Gruppe universeller Regeln, deren Verletzung Ächtung und Isolation zur Folge hat. Ein solcher Verstoß im Laufe einer Interaktion führt dazu, dass wir verletzt, beleidigt, peinlich berührt sind und an der Qualität der Beziehung zweifeln. Der Klient, der das Gefühl hat, keine Hilfe gefunden zu haben, verliert das Vertrauen und ist verletzt, während der Helfer sich ablehnt oder ignoriert fühlt.
Helfen ist also eine Beziehung, aber der Prozess des Anbietens und Annehmens halbformeller oder formeller Hilfe beginnt meist mit einer individuellen Initiative. Das heißt, man muss begreifen, wie aus dem anfänglichen Kontakt zwischen potentiellem Helfer und potentiellem Hilfesuchenden eine Beziehung wird, die zur Hilfe führt. Eine helfende Beziehung entsteht, wenn jemand hilft , Hilfe anbietet oder Hilfe sucht. Ein Teamleiter sucht sich eine Reihe von Leuten und setzt einen Prozess des Aufbaus von Beziehungen in Gang, der dazu führt, dass sich die Mitglieder des Teams gegenseitig helfen. Ein Berater hilft einem Manager, Arbeitseinheiten so zu strukturieren, dass sie sich gegenseitig helfen und die Ziele der Organisation erreicht werden können. Und auch wenn eine Gruppe oder Gemeinschaft erkennt, dass sie kollektiv Hilfe braucht, muss jemand dieses Bedürfnis artikulieren und ins gemeinsame Bewusstsein holen, damit der Prozess einer helfenden Beziehung in Gang kommt.
Wir müssen uns also zunächst auf die Frage konzentrieren, wie aus persönlicher Initiative eine Beziehung entsteht. Wer die Dynamik des Beziehungsaufbaus kennt, kann eine effektivere helfende Beziehung entwickeln.
In den folgenden Kapiteln werde ich einige grundlegende Regeln für Beziehungen und ihre Anwendung auf die helfende Beziehung untersuchen. Wir werden die ungleichen, unklaren Rollen in der helfenden Beziehung betrachten, die verschiedenen möglichen Rollen der Helfer in einer ausgeglichenen und angenehmen Beziehung, den Aufbau einer solchen Beziehung und die Interventionen im Verlauf der Entwicklung der Beziehung zwischen Klient und Helfer.
Anmerkung
* Diese Kapitel ist auf Deutsch in leicht geänderter Form zuerst erschienen in: Profile 17 (2009), 5-9; aus dem Amerikanischen von Irmgard Hölscher.
2. Kapitel
Ökonomie und Theater – Das Wesen der Beziehung
Es gibt zwei kulturelle Grundprinzipien, die wir von klein auf lernen. Das erste und wichtigste lautet: Jede Kommunikation zwischen zwei Parteien ist ein reziproker Prozess, der fair und gerecht sein oder zumindest scheinen muss. Um in der sozialen Welt zu überleben und sich wohl zu fühlen, muss man die Regeln der sozialen Ökonomie kennen. Das beginnt auf der einfachsten Ebene: Kinder lernen, sich für ein Geschenk zu bedanken oder es sonst irgendwie anzuerkennen. Der Dank ist die Gegenleistung, die Erwiderung, die die Kommunikationsschleife schließt und für Fairness und Ausgleich in der Interaktion sorgt. Kinder lernen auch, dass sie der Person, die sie anspricht, Aufmerksamkeit schulden. Das Wort »schulden« verweist darauf, dass die Informationen oder Anweisungen des anderen einen bestimmten Wert haben. Wie wir sehen werden, erwartet man in allen Beziehungen Wechselseitigkeit. Wer sich nicht revanchiert, riskiert, den anderen zu verletzen und die Beziehung scheitern zu lassen.
Das zweite kulturelle Grundprinzip besagt, dass Beziehungen in allen menschlichen Kulturen auf festen Rollen basieren, die sehr früh erlernt und dann so automatisch werden, dass man sich ihrer gar nicht mehr bewusst ist. Man muss seine jeweilige Rolle richtig und der jeweiligen Situation angemessen spielen. Wenn zwei Beteiligte miteinander sprechen, müssen sie entscheiden, wer Akteur (Sprecher) und wer Publikum (Zuhörer) ist. Diese Rollen können sehr rasch wechseln, müssen aber immer komplementär sein, damit soziale Interaktion funktionieren kann. Der ökonomische Wert einer Interaktion wird von diesem Grundprinzip – der Definition der Situation – bestimmt, denn es legt fest, welche Rolle man spielt und welchen Wert man ihr beimisst. Wer durch Tonfall und Verhalten zeigt, dass er etwas Wichtiges zu erzählen hat, definiert damit die Situation, die Rollen und den Austausch. Der andere nimmt automatisch eine aufmerksame Haltung ein; er zeigt mit seinem Verhalten, dass er zuhört. Er erwartet eine wichtige Botschaft und ist beleidigt oder irritiert, wenn er merkt, dass er nur von dem abgelenkt werden soll, was er gerade tut. In diesem Fall hat der Sprecher seine Rolle nicht so gespielt, wie es die von ihm definierte Situation verlangte.
Das normale Alltagsleben besteht aus einer ganzen Reihe solcher Definitionen. Sie geben vor, welche Rolle man spielen soll und was man von anderen erwarten kann. Wir lernen zum Beispiel, dass wir uns gegenüber Menschen mit höherem Status ehrerbietig verhalten müssen. Wenn wir als Vorgesetzte unseren Mitarbeitern begegnen, definiert die Situation das Verhalten, das unserem Status entspricht. Auf diese Weise lernen wir, welchen Wert wir der eigenen und der Rolle der anderen beimessen können. Gerechte, faire Beziehungen erfordern keineswegs den gleichen Status, sondern ein Verhalten, das den jeweiligen Status und die jeweilige Situation berücksichtigt. Die Situation bestimmt, wie viel Wert jeder Beteiligte für sich beanspruchen kann. Werde ich bei einer wichtigen Konferenz als Redner vorgestellt, steigt mein Wert, und das Publikum erwidert das mit größerem Respekt. Treffe ich die Teilnehmer später bei einem Glas Wein, ist mein Status weiterhin höher, aber die Situation verlangt weniger