Prozess und Philosophie des Helfens. Edgar H. Schein
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Die erste und wichtigste Rollenbeziehung ist die zwischen Eltern und Kind. Wir lernen früh, wie man sich unterordnet, sich durchsetzt, obwohl man weder Macht noch Autorität besitzt, und, was am wichtigsten ist, wie man Autoritätspersonen gibt, was sie für eine ausgeglichene Beziehung brauchen. Das üben wir unser Leben lang, weil es immer Menschen gibt, die uns überlegen sind. Beim Heranwachsen lernen wir den richtigen Umgang mit Gleichaltrigen und Unterlegenen, und wenn wir erwachsen sind, werden wir selbst Eltern. Der Soziologe Erving Goffman (1967) hat das als Regeln für »Ehrerbietung und Benehmen« bezeichnet. Als Kinder und Untergebene lernen wir Ehrerbietung, als Eltern und Chefs, wie wir auft reten müssen, um den Respekt der Untergebenen zu gewinnen und zu bewahren. Die Regel zum Beispiel, dass Angestellte einen Vorgesetzten nie unterbrechen sollten, gilt umgekehrt nicht. Von einem Mitarbeiter wird im Gespräch mit dem Vorgesetzten erwartet, dass er sein Interesse durch aufmerksame Haltung und sein Verständnis durch bestätigendes Nicken zeigt, von einem Vorgesetzte erwartet man, dass er sich durch autoritatives und klares Verhalten den Respekt der Untergebenen sichert.
Mehrdeutige oder missverständliche kulturelle Regeln können tragische Folgen haben. In den südafrikanischen Goldminen zum Beispiel bestraft en weiße Manager schwarze Arbeiter, die ihnen »nie in die Augen sehen konnten«, wegen Aufsässigkeit und Unzuverlässigkeit, weil sie nicht wussten, dass es in den Stämmen, aus denen die Arbeiter stammten, als Zeichen der Respektlosigkeit und völlig unannehmbar galt, Blickkontakt zu einer Person mit höherem Status aufzunehmen.
Ein anderes Beispiel sind Dresscodes: Angestellte können sich relativ formlos, Chefs müssen sich relativ förmlich anziehen – sie sind einer Art Uniformzwang unterworfen. Aber bei einer Konferenz, bei der der Chef anwesend ist, gebietet es der Anstand, sich ebenfalls förmlich zu kleiden. Es zählt zu den wichtigsten Bereichen des sozialen Lernens, wann und wie man Respekt zeigen muss. Wir lernen auch, dass ein Chef, der sich nicht förmlich kleidet, die formelle Status-Distanz verringern will. Wird das nicht durch andere egalitäre Verhaltensweisen, ergänzt, sind meist Spannungen die Folge, weil die Mitarbeiter glauben, der Chef wolle die größere Nähe irgendwie ausnutzen. Die öffentliche Diskussion über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz hat diesen Aspekt der Regeln für Ehrerbietung und Benehmen sichtbar gemacht. Ein Klaps auf den Hintern, eine Umarmung oder ein schmutziger Witz über die Geschlechter- und Statusgrenzen hinweg führen oft dazu, dass sich die Betroffenen nichtgleichberechtigt und ausgebeutet fühlen.
Je höher der Status, desto förmlicher und starrer die Verhaltensregeln. Führungskräft e haben zum Beispiel auch deshalb ihre eigene Toilette, weil ihnen das einen Ort gibt, um sich vor der Begegnung mit ihren Untergebenen zu sammeln. Zudem unterstreicht dieses Privileg die Vorstellung vom sozialen Wert, der mit dem Status verbunden ist – je höher der Wert, desto sakrosankter die Person. Heute, zu einer Zeit, in der Managern klischeehaft fast schon übermenschliche Eigenschaft en zugeschrieben werden, erwartet man einfach nicht, Superman auf der Angestelltentoilette zu treffen.
Über die größere Förmlichkeit hinaus sind Autoritätspersonen weiteren Regeln unterworfen. Bei Kindern ist der Spielraum dessen, was als angemessenes Verhalten gilt, sehr viel größer als bei Eltern und Vorgesetzten. Man ist zum Beispiel häufig schockiert, wenn ein Würdenträger in einer informellen Situation aus der Rolle fällt und zum Beispiel flucht oder Dummheiten macht.
Harris (1967) hat in seinem klugen Buch Ich bin ok, du bist ok darauf hingewiesen, dass wir uns im Erwachsenenalter in bestimmten Situationen zwischen den Rollen »Kind«, »Erwachsener« oder »Eltern« entscheiden können, weil wir all diese Rollen im Leben gelernt haben. Wir wissen, wie man sich »kindlich«, »autoritär« oder »altersgerecht« verhält. Für welche Rolle wir uns entscheiden, hängt oft von vorgefassten Meinungen über die Beteiligten, ihre Persönlichkeitsmerkmale und ihren Status ab. Reagiert jemand zum Beispiel väterlich und spricht von oben herab zu mir, scheint mir vielleicht ein kindliches, das heißt passiv-aggressives Verhalten angebracht, auch wenn rückblickend ein erwachsener Umgang mit der Situation für beide Seiten effektiver gewesen wäre.
Müsste dann Helfen – echtes bewusstes Helfen – im besten Fall nicht eine Aktivität zwischen Erwachsenen sein, das heißt eine a priori ausgeglichene Beziehung, ungeachtet aller formellen Rang- und Statusunterschiede? Wer in der Rolle des Kindes bzw. des Erwachsenen hilft, begibt sich in eine überlegene bzw. unterlegene Position, und das kann den Prozess in vieler Hinsicht verzerren. Hilft ein Elternteil einem Kind, spricht man normalerweise nicht von helfendem, sondern von »väterlichem« bzw. »mütterlichem« Verhalten. Vielleicht sollte man sich einmal fragen, ob »erwachsenes« Helfen nicht andere und möglicherweise bessere Ergebnisse brächte. Mit anderen Worten: Die Eltern könnten auf die Bitte eines Kindes um Hilfe bei den Schulaufgaben (in der Rolle des Erwachsenen) mit der Frage reagieren: »Was macht dir Probleme?«, statt eine Variante der Elternrolle zu spielen und zu sagen: »Lass mal sehen – aha, das geht so.« Und wie nennt man es eigentlich, wenn ein Kind den Eltern hilft? Es gibt wunderbare Geschichten von Kindern, die sich um ältere Verwandte kümmern, aber wir betrachten ein solches Verhalten meist als Ausnahme und erwarten es nicht. Wir sagen einfach, diese Kinder seien sehr reif (mit anderen Worten: erwachsen).
Allgemein gilt: Agiert der Helfer in der Elternrolle, empfindet der Klient das als herablassend, agiert der Helfer in der Rolle des Kindes, wird der Klient verwirrt und fragt sich, ob die Rollen nicht vertauscht worden sind. Es gibt im situationsabhängigen Verhalten auch kulturelle Varianten, auf die ich in der Beschreibung dieser Dynamik noch nicht eingegangen bin. Ich habe zum Beispiel bei einem Beratungsprojekt in einer europäischen Niederlassung von Exxon beobachtet, dass die Manager bei Reisen in die USA regelmäßig zwei verschiedene Outfits dabei hatten – den formellen dunklen Anzug für die Mutterfirma in New York und Jeans, Stiefel und offenes Hemd für die Filiale in Texas. In Start-ups im Hightech-Bereich hat man oft den Eindruck, es gebe in diesen neuen Firmen gar keine formellen Regeln für Ehrerbietung und Benehmen; tatsächlich sind sie aber nur anders. Ich weiß von einem Start-up, in dem der Status dadurch bestimmt wurde, wie weit jemand seine Ärmel aufk rempelte. Die Kommunikation wirkt in diesen Unternehmen oft ausgesprochen lässig, aber auch hier müssen neue Mitarbeiter lernen, was im Gespräch mit den höherrangigen Ingenieuren oder Soft wareprogrammierern erlaubt ist und was nicht.
Auch die Persönlichkeit, und hier vor allem das Abhängigkeitsbedürfnis, bestimmt, zu welchen Rollen man in bestimmten Situationen neigt und wie sie gespielt werden. Für einen abhängigen Menschen kann zum Beispiel eine Beziehung gleichberechtigt sein, in der andere die Führungsrolle übernehmen, während jemand, der auf Unabhängigkeit Wert legt, sie nur dann als gleichberechtigt betrachtet, wenn seine Opposition akzeptiert und respektiert wird. Es ist wichtig, sich und seine Neigungen zu kennen, denn sie legen fest, ob man eine entstehende Beziehung als fair und gleichberechtigt empfindet.
Und nicht zuletzt hängt die Spielart der Regeln auch von der gesellschaft lichen Funktion ab, die eine Beziehung in einer bestimmten Situation hat. Es gibt viele kommerzielle Aktivitäten, bei denen die Beziehung zum anderen – meist ein Verkäufer oder Sachbearbeiter – formal, unpersönlich, emotional neutral und sehr spezifisch auf den Hauptzweck der Interaktion ausgerichtet ist. Hier erwartet niemand Nähe, wohl aber spielt Vertrauen eine Rolle, denn die Interaktion bietet wenig Hinweise auf die Zuverlässigkeit des anderen. Die Frage: »Kann ich Ihnen helfen?« signalisiert im Laden den Versuch, den Kunden vom Verkäufer abhängig zu machen, der wiederum selbst von dessen Entscheidungen über Kauf bzw. Kaufverzicht abhängig ist. Die meisten kennen die Gesprächseröffnung beim Autokauf