Systemische Wirtschaftsanalyse. Günther Mohr
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Fest steht jedoch auch, dass ein aufgeblähter Finanzkapitalismus lange Zeit Wohlstand und Wachstum aufrecht erhalten hat. Aber letztlich fragile, psychologisch aufrecht erhaltende Kreisläufe charakterisierten die Wirtschaft. Hier kommt die systemische Perspektive der Balancen ins Spiel. Solange sich die aufgebauten Türme in Balance halten lassen, funktioniert das System, doch das psychologische Gleichgewicht kann zusammenbrechen, sobald ein Steinchen herausgezogen wird. In der Finanzkrise war dieses Steinchen die Pleite der Lehman Brothers. Und offenbar waren Finanzexperten weltweit von den Auswirkungen dieser Gleichgewichtsstörung überrascht. Das faktische und psychologische Einschreiten des Staates korrigierte das aus den Fugen geratene Gleichgewicht.
Folgerichtig wurde in Deutschland 2013 die Partei, die für die ungeregelte wirtschaftliche Aktivität stand und am meisten vor Staatseingriffen in die Wirtschaft gewarnt hatte, die FDP, aus dem Bundestag herausgewählt. Ihre wirtschaftspolitische oder besser gesagt wirtschaftsideologische Position war für die Menschen praktisch widerlegt.
Die Rekursivität, das Sich-Wiederholen ähnlicher Prinzipien, wird eigentlich in der Wirtschaftstheorie in vielen Modellen unterstellt. Das notwendige, durchgehende Prinzip in der Wirtschaftskrise war die Aufrechterhaltung des Wirtschaftskreislaufs und seiner Geschwindigkeit. Die systemischen Interventionen zur Finanzkrise zielten bezüglich Rekursivität auf das Erhalten dieses wirtschaftlichen Kreislaufs und seiner Geschwindigkeit ab.
Die neoliberal denkende amerikanische Bush-Regierung war mit ihrer Entscheidung, Lehman Brothers nicht zu retten, allerdings dem Prinzip der freien Marktwirtschaft gefolgt. Wenn ein Unternehmen gescheitert ist, soll es vom Markt verschwinden. Die psychologischen Folgen dieser Intervention ließ viele dann sehr schnell umdenken. Nachdem die Wirtschaftspolitik von John Maynard Keynes, die gezielte Beeinflussung der Wirtschaft durch staatliche Nachfrage, seit den 1990ern »beerdigt« schien, stand sie innerhalb weniger Wochen in der ganzen Welt wieder auf.
An dieser Stelle wird auch klar, wie die Subsysteme (Unternehmen, Konsumenten, Staat, Außenwirtschaft) miteinander agieren. Der Staat greift in die Wirtschaft ein, ob er will oder nicht. Nach der Rettung der Banken waren in Deutschland Konjunkturprogramme in Milliardenhöhe, etwa für die Abwrackprämie möglich, um rein psychologisch Handlungsfähigkeit und Sicherheit zu suggerieren. Diese Innere Pulsation, das Zusammenwirken der Subsysteme, ist in Deutschland auf der Basis der föderalistisch geprägten breiten Wirtschaftsstruktur – ähnlich wie in anderen Bundesstaaten – recht gut gelungen, aber in einigen Nachbarländern (Großbritannien, Frankreich) nicht. Zentralistisch organisierte Länder scheinen zu wenig regionale Wirtschaftskräfte auszubilden.
Wirtschaftssysteme kannten bisher auch eine Äußere Pulsation, das Setzen einer äußeren Grenzlinie. Früher bildeten alle Ostblockstaaten einen eigenen Wirtschaftsraum. Das ist vorbei. Es gibt sie aber noch, die äußeren Grenzlinien. Mittlerweile existieren nur noch einige nicht in die Weltwirtschaft integrierte »Schurkenstaaten«, wie George W. Bush diese Länder bezeichnete. Jedoch der Ausschluss erscheint heute immer weniger möglich. Man kann weder Russland noch Griechenland aus der Weltwirtschaft ausschließen. Die herrschende Aufmerksamkeit der globalen Welt ist der Wettbewerb – eine Form des Kampfes – aller Nationen auf dem Weltmarkt.
Gleichzeitig sind die systemischen Verknüpfungen heute sehr viel deutlicher als früher. Die Vernetzung aller wichtigen Wirtschaftsnationen, denen Gremien wie die G8 und G20 institutionell Rechnung tragen, aber auch die Verbindung mit Schwellenländern, jenen, die unsere T-Shirts produzieren, mit Russland und dem Irak, die unser Öl liefern, und mit Afrika, wo Millionen von Menschen einen Weg nach Europa suchen, lassen das globale System deutlich werden. Tatsächlich leben wir in einer Welt wechselseitiger Abhängigkeit. Darin, diese nicht in ausbeuterischen Beziehungen zu leben, besteht heute die große Herausforderung. In der Inklusion, dem Einschließen aller, liegt heute ein Quantensprung in der Wirtschaftsentwicklung. Zur Diskussion stehen allerdings die Spielregeln, die dabei verlangt werden.
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