Systemische Wirtschaftsanalyse. Günther Mohr

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Systemische Wirtschaftsanalyse - Günther Mohr EHP - Handbuch Systemische Professionalität und Beratung

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schleichenden Prozess wurden der Staat und die Gemeinwesen, die unbeabsichtigt in die Retterrolle geraten waren, zur Krisenursache (»Staatsverschuldung«) erklärt. Aus dem Retter wurde das Opfer. Die Gläubiger und die Eigner der Finanzinstitute wurden nicht zur Kasse gebeten. Angefangen hatte allerdings alles mit dem Fehlverhalten der Banken. Die Staaten und überstaatlichen Institutionen kamen unfreiwillig in die Rolle eines mächtigen Wirtschaftsakteurs.

      Seit 2008 hängt nun die Wirtschaft gefühlt am seidenen Faden. Sie erscheint wie in einem großen Feldforschungslabor mit immer neuen Ereignissen. Was früher undenkbar war, etwa ständiges Fluten der Geldmärkte mit großer Liquidität, wird weltweit entgegen der vorher herrschenden volkswirtschaftlichen Lehrmeinung dauerhaft praktiziert. Gleichzeitig ist Unsicherheit ein beherrschendes Thema. Drohende Zusammenbrüche von Wirtschaftsakteuren und skandalöse Rechtsvergehen (Libor-Absprachen, Bilanzfälschungen, Veruntreuung von Anlagegeldern) reihen sich im Rhythmus weniger Monate aneinander. Es waren Wirtschaftsszenarien, die bis dahin kaum jemand für möglich gehalten hatte: Eine der größten Banken der Welt, die Lehman Brothers Bank, geht Pleite und die Auswirkungen werden sofort überall auf der Welt spürbar. Sogar die deutschen Spargelder scheinen in Gefahr. Nur durch das beherzte Eingreifen von Bundeskanzlerin und Finanzminister und deren – allerdings uneinlösbares Versprechen – die Spareinlagen seien sicher, wird Schlimmeres vermieden. Die Lehman-Pleite löste einen Beinahe-Zusammenbruch des Bankensystems und damit des Wirtschaftssystems aus. So nah am Crash war man seit den dreißiger Jahren nicht mehr.

      Die Volkswirtschaften reagierten mit der Verstaatlichung großer Teile ihrer Bankenindustrie. An dieser Stelle tauschten Staat und private Unternehmen ihre Rollen. Rollen sind die zweite systemische Dynamik und sind nach der Aufmerksamkeit eine grundlegende und wesentliche Perspektive in jedem System. In der Wirtschaft ist entscheidend, wer über wirtschaftliche Güter verfügt. Es geht um Fragen wie: Gibt es Privateigentum? Wie ist die Eigentümerrolle genau ausgestaltet (»Sozialverpflichtung des Eigentums«)? Im heute immer noch laufenden Feldexperiment »Bewältigung der Finanzkrise« trat der Staat plötzlich in die Eigentümerrolle wichtiger großer Banken wie der Commerzbank, nahm aber die Managementrolle nicht wahr. Die beließ man bei den Bankern. So entstand eine Vergesellschaftung des Risikos ohne wirkliche Übernahme der Verfügungsgewalt. Die Staaten fühlten sich aber verpflichtet, die Banken aufzufangen. TINA (»There Is No Alternative«) hieß das Aufmerksamkeitslenkungsprinzip. Die Banken wurden für die Aufrechterhaltung des gesamten Systems gleichermaßen als notwendig wie für unfähig erklärt. Sie waren unfähig, sich selbst zu heilen. Andererseits hieß es, sie seien »systemrelevant«. Der Begriff »systemrelevant« kam auf, weil man zu diesem Zeitpunkt Angst hatte, sich Wirtschaft anders vorzustellen.

      Auch entgegen der bis kurz vorher herrschenden wirtschaftswissenschaftlichen Lehre des Neoliberalismus wurden riesige Konjunkturprogramme zur Rettung der Wirtschaft eingesetzt. Ein Beispiel war die »Abwrackprämie« für Autos eines bestimmten Alters. Der Staat unterstützte die Haushalte und Unternehmen in ihrer Rolle als Nachfrager im Wirtschaftskreislauf. Zudem kauften die Zentralbanken in ungeahntem Ausmaß eigene Staatsanleihen auf, um diesen Markt zu stabilisieren und Liquidität in die Wirtschaft zu pumpen. Früher hat man das »Geld drucken« genannt. Die Programme kosten sehr viel Geld und haben die Durchschnittsverschuldung in Europa von 70 auf 100 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) erhöht. Festzuhalten bleibt, dass der Staat in dieser Situation von seiner Rolle als Rahmengeber und Normengestalter zu einem aktiven Teilnehmer in der Finanzindustrie wurde.

      Die systemische Analyse schaut auch auf die Beziehungen in einem System. Die Beziehungen zwischen den Entscheidern in Politik, Finanzwirtschaft, Realwirtschaft und der Öffentlichkeit schienen sich zu wandeln. Das Vertrauen, eine Grundlage für Beziehungen, ist in wirtschaftliche Institutionen deutlich geschwunden.

      Insbesondere die Finanzwirtschaft stand in der bisherigen Form in Frage. Zudem gab es kaum Manager und Entscheider, von denen Aussagen zu hören waren, sie hätten falsch entschieden oder es täte ihnen irgendetwas leid. Man verfuhr im Sinne von Helmut Kohls Maxime, der einmal gesagt haben soll: Wir machen keine Fehler, aber es gibt manchmal Fehleinschätzungen. Eine offene Kommunikation über wesentliche Aspekte dieser Krise fand nicht statt. Im Gegenteil, als die Nervosität ein wenig zurückgegangen war, mahnten die Lobbyvertreter der Finanzwirtschaft sofort wieder vor Regulierungen und drohten oder ängstigten mit mangelnder Kreditversorgung der Wirtschaft. Die Beziehungen änderten sich erneut.

      Dabei hatte die Finanzkrise einen interessanten Auslöser: Die amerikanischen Regierungen unter Bill Clinton und George W. Bush wollten den amerikanischen Traum vom Eigenheim allen Amerikanern ermöglichen, eine quasi kapitalistische Sozialpolitik. Dazu wurden Hypotheken steuerlich begünstigt, und im Jahr 2003 senkte die US-Notenbank ihren Leitzins auf ein Prozent. Damit wurden die Kredite spottbillig. Millionen amerikanischer Haushalte kauften sich ein Eigenheim auf Kredit und ohne Sicherheiten. Ihre einzige Sicherheit stellte die waghalsige Voraussage ständig steigender Immobilienpreise dar. Als die Hypothekenzinsen wieder stiegen, konnten viele Menschen ihre Kredite nicht mehr bedienen. Anstatt ihr Haus abzuzahlen, nahmen sie weitere Konsumkredite auf und verschuldeten sich noch mehr. Wer sein Haus verkaufen wollte, merkte aber bald, dass er mit dieser Idee nicht alleine war. Die Preise für Häuser gingen in den Keller. Die Immobilienblase war geplatzt.

      Auf keiner Ebene und zu keinem Zeitpunkt hatte eine Kommunikation des Risikos zwischen Banken und Kunden oder zwischen Banken und Staat stattgefunden. Risiken und die Kommunikation darüber waren ausgeblendet worden. Zusätzlich gelang es den amerikanischen Banken, ihre Bilanzsumme mit neuen Produkten, sogenannten Derivaten, hochzutreiben. Die Bilanzsumme – also die Größe, Bedeutung und Macht – einer Bank addiert sich aus den vergebenen Krediten. Die Bilanzsumme der Deutschen Bank war mit 2,2 Billionen Euro nur etwas kleiner als das gesamte deutsche Bruttosozialprodukt mit 2,9 Billionen Euro (2013).

      Die US-Banken hatten aus den Immobilien-Krediten neue Kreditpakete, die sogenannten Derivate, entwickelt, die sie weltweit an Investoren verkauften. Derivate sind nichts anderes als Wetten auf das Eintreten eines bestimmten Ereignisses. Ohne es genau zu wissen, spekulierten Kunden in Europa darauf, ob Kunden in Amerika ihre Kredite bedienen könnten. Das System bröckelte und brach zusammen, als massenhaft Kunden ihre Kredite wirklich nicht mehr bedienen konnten und die Halter der Derivate alle ihren Wetterlös haben wollten. Die Banken, die zuerst betroffen waren, fanden eine Problemlösung und meldeten Insolvenz an, stellten sich also unter staatlichen Schutz. In den USA nennt man das »Chapter 11«. Die amerikanische Regierung konnte die drei großen Banken der klingenden Namen (Bear Stearns, Fannie Mae, Freddie Mac) mit einigen Milliarden Dollar stützen. Als am 15. September 2008 die Bank Lehman Brothers Chapter 11 beantragte, verzichtete der konservative, marktliberal eingestellte US-Finanzminister und vormalige Goldman Sachs-Manager Henry Paulson auf staatliche Unterstützung und ließ die Bank pleitegehen. Viele erinnern sich, wie die Mitarbeiter von Lehman mit kleinen Kartons, aus denen Ordner oder Blumen ragten, das Finanzviertel räumten. Die psychologische Unsicherheit über die Werthaltigkeit und Zuverlässigkeit aller Banken wuchs immens. Das Bankensystem in der bisherigen Form verlor sein wichtigstes Kapital, das Vertrauen. Vertrauen ist eine rein psychologische Variable, im Bankensektor existierte es plötzlich nicht mehr. Und das Misstrauen hält bis heute an. Der unmittelbare finanzielle Schaden, der durch diese plötzliche Insolvenz der Bank Lehman Brothers hervorgerufen wurde, wird auf 50 bis 75 Milliarden US-Dollar geschätzt. »Peanuts«, würde manch ein Banker sagen.

      Das Resultat, der Erfolg des Vorganges, war jedoch nachhaltig. Die Finanzkrise brachte Staaten an den Abgrund. Der psychologische, über das systemische Zusammenwirken erzeugte Schaden war gigantisch.

      Mindestens ein wichtiger Teil der Wirtschaft, die Finanzindustrie, hat damit ihr Scheitern dokumentiert. Gier und »moral hazard«, wie man moralische Vergehen in der Wirtschaft nennt, haben entscheidend dazu beigetragen. Da man dieser Branche in den USA auch die Altersvorsorge der Menschen anvertraut hat, sind die Grundfesten der Gesellschaft erschüttert. Die Fachleute halten seit 2008 den Atem an, dass bloß nichts Weiteres passiert. Die psychologischen Konsequenzen sind trotz Schnelllebigkeit des wirtschaftlichen Geschehens gravierend. Ob bei den Lehman Brothers

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