Systemische Wirtschaftsanalyse. Günther Mohr

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Systemische Wirtschaftsanalyse - Günther Mohr EHP - Handbuch Systemische Professionalität und Beratung

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zur Verfügung und zeigt eine entwicklungsoptimistische Kultur. Mehr dazu in den Bücher zur Transaktionsanalyse (Mohr 2008, 2010). Ihr größter Vorteil besteht darin, dass ihre für die Mikroeinheit konzipierten Modelle sehr gut mit der systemischen und der Makroperspektive zu verbinden sind. Insofern habe ich eine Reihe von Einzelmodellen zur psychologischen Erklärung von Verhalten (Grundbedürfnisse, Denkbezugsrahmen, Ausblendung von Wirklichkeit, Rollen etc.) aus der Transaktionsanalyse bezogen. Das folgende Modell der Systemdynamiken zeigt ein Zusammenwirken aus systemischem Ansatz und Transaktionsanalyse.

      Der System- und Kreislaufcharakter der Wirtschaft lässt sich mit zehn Perspektiven in vier Feldern analysieren. Als Felder habe ich die Strukturen und Prozesse sowie das Gleichgewichtsstreben (Balancen) und die Pulsation an den äußeren und inneren Grenzlinien eines Systems angenommen. In diesen Feldern habe ich wiederum je zwei bis drei Dynamiken identifiziert. Diese zehn Systemdynamiken will ich jetzt auf das System Wirtschaft anwenden (siehe Abbildung 1).

      Die erste Perspektive ist die der Aufmerksamkeit. Wirtschaftsfragen sind grundlegend komplex und alles ist miteinander verbunden, Mensch, Natur und Technik. Deshalb lenkt die Aufmerksamkeit hier das Denken und Handeln und fokussiert immer nur Teilaspekte, auch weil die Komplexität die Fähigkeit des menschlichen Gehirns übersteigt. Aber aus dieser Fokussierung werden häufig Schlüsse gezogen, die dann mehr oder weniger für das ganze System passen.

      Die zweite Perspektive ist die der Rollen. Man muss sich klar machen, dass bestimmte Individuen verschiedene Rollen in einem System besetzen. Ein Beispiel ist die Rolle des Kapitaleigentümers, des Produzenten, des Konsumenten oder des regulierenden Staates. Bernd Schmid definiert die Rollen als zusammenhängende Muster mit bestimmtem Denken, Fühlen, Verhalten (Schmid 1994).

      Darüber hinaus treten die Rollenträger in bestimmte Beziehungen zu anderen Rollenträgern. Die Art der Beziehung hängt wiederum maßgeblich von deren individuellen Eigenschaften ab. Das lässt sich leicht nachvollziehen. Wie sind etwa zwei zentrale Wirtschaftsbeziehungen, die Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung und die Gläubiger-Schuldner-Beziehung definiert? In den Beziehungsdynamiken ist vor allem auch die Frage der Macht zu stellen. Welche Machtformen spielen eine Rolle? Spezifische Beziehungsmuster charakterisieren ein System. Aufmerksamkeit, Rollen und Beziehungen sind die drei Perspektiven, die die Struktur eines Systems beschreiben.

      Im nächsten Schritt kann man die typischen Prozesse analysieren, die jedes Teilsystem wie auch die Wirtschaft als Ganzes charakterisieren: Das sind Kommunikations-, Problemlöse- und Erfolgsprozesse. Die Wichtigkeit von Kommunikation im persönlichen und beruflichen Leben ist jedem sofort einleuchtend. Wer hat keine Erfahrung mit Missverständnissen, Fehlern durch mangelnde Kommunikation oder der Erleichterung nach einem klärenden Gespräch? Wird die Kommunikation offen und fair geführt oder ist die Wirtschaftskommunikation charakterisiert durch subtile Werbebotschaft auf der einen und gerichtliche, juristisch spitzfindige Auseinandersetzung auf der anderen Seite?

      Wie Probleme angegangen werden, ist ebenfalls ein charakteristisches Zeichen für ein System und es lohnt sich, diesen Prozess zu analysieren. Werden die Kosten des Wirtschaftens realistisch einbezogen oder – wie in vielen Großprojekten – wird ein Teil ausgeblendet? Dieses Phänomen der externen Kosten ist heute ein sehr zentrales bei vielen Projekten. Ein Prozess, auf dem selten der Reflexionsfokus liegt, ist der Erfolg. Was ist der Erfolg des Wirtschaftens, wie wird er herbeigeführt und wem kommt er zugute? Wird er überhaupt betrachtet, gefeiert, zelebriert oder ignoriert?

      Nach Betrachtung der Systemstruktur und der Systemprozesse kommen noch vier typisch systemische Perspektiven hinzu. Befinden sich die verschiedenen Kraftfelder in einem System in einer Balance? Dies kann man sich beispielsweise am System zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften ansehen. Mal kann einer Erfolge vorweisen, mal muss er Rückschläge eingestehen. Sie verhandeln so lange, bis für beide Systeme die Balance stimmt. Man kann für lebende Systeme eine Gleichgewichtstendenz annehmen, die aus ihrem Streben nach Selbsterhalt folgt (»Homöostaseprinzip«). Organisationssysteme, zu denen man eine auf Rechtsgrundlagen beruhende Wirtschaft zählen kann, können widerstreitende Impulse, Interessen- und Zielrichtungen unter einem Dach vereinen (Simon 2007).

      Interessant ist auch zu beobachten, in wieweit sich gleichartige Prinzipien in verschiedenen Teilsystemen wiederholen. Dies nennt man Rekursivität. Wenn in einem Wirtschaftssystem gleichermaßen transparente wie an anderer Stelle korrupte Prinzipien gelten, ist die Rekursivität niedrig. Auch die relativ geringe Ausprägung demokratischer Prinzipien in der Wirtschaft im Gegensatz zur Macht des Geldes – beispielsweise bei gerichtlichen Auseinandersetzungen – ist eine Einschränkung von Rekursivität. Sind die Prinzipien in verschiedenen Teilsystemen eines Systems ähnlich, sind die Vorhersagbarkeit besser und die Transaktionskosten geringer. Stafford Beer hat diese Sichtweise in seiner »viable systems theory« zuerst beschrieben (Beer 1994). Ein Beispiel sind auch Steuergesetze. Sie können rein klientelbezogen, etwa bei der Mehrwertsteuersonderregelung durch die schwarz-gelbe Regierung für das Hotel- und Gaststättengewerbe in 2009, formuliert sein oder generell für alle gelten.

      Und dann noch die Frage: Wie reagieren Wirtschaftssysteme an ihren äußeren Grenzlinien? Wie also koppeln Teilsysteme an andere an oder grenzen sich von ihnen ab? Für menschliche Arbeitskräfte gibt es Einwanderungsbedingungen, für Kapital hat man noch keine Auffanglager gegründet, so resümiert Fritz Simon in seiner »systemischen Wirtschaftstheorie«. Diese »Äußere Pulsation« ist ein Beispiel für Offenheit oder Geschlossenheit des Systems.

      Die »Innere Pulsation« betrachtet, wie sich in einem System Subsysteme entsprechend den technologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen entwickeln. Beispielsweise ändert sich die Nahversorgung in vielen entwickelten Ländern. Kleine Lebensmittelläden in Fußwegnähe, die den täglichen Bedarf decken, verschwinden und es entstehen nur mit dem Auto erreichbare Einkaufszentren.

      Die Pulsationen, das heißt die Dynamiken an den Grenzlinien von Systemen, sind im Zeitalter der Globalisierung für wirtschaftliche Systeme von hoher Bedeutung. Pulsation ist dann optimal, wenn angemessene Offenheit, Durchlässigkeit und kooperative Beziehungsgestaltung an äußeren und inneren Grenzlinien vorliegt. Nicht wünschenswert sind völlige Durchlässigkeit oder auch Abschottung gegen äußere Impulse.

      Insgesamt gibt es in der Betrachtung von Systemen eine Sehnsucht der Menschen, das Komplexe möglichst zu vereinfachen. Nicht wenige wirtschaftstheoretische Ansätze erliegen aber auch gerade hier der Versuchung einfacher – oder zu einfacher – Lösungen. Manchmal wird aber erst durch die Erfassung der Komplexität die Wirklichkeit erfahrbar. Die systemische Perspektive ist eine frei gewählte Aufmerksamkeitsrichtung. Dieses Buch ist eine Einladung zu einer systemischen Sichtweise auf die Wirtschaft.

      Die erste Anwendung der systemischen Wirtschaftsanalyse gilt der Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2008. Systemisch auf die Wirtschaft zu schauen, bedeutet ihre Dynamiken zu erkennen. Die grundlegende systemische Perspektive ist die Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt durch den Einfluss der Lobbyisten gab gerade diese Krise ein interessantes Beispiel für die Verschiebung der Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit ist das wichtigste Steuerungsprinzip in Humansystemen.

      Im Laufe der Finanzkrise ist es den Akteuren gelungen, die Aufmerksamkeit

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