Systemische Wirtschaftsanalyse. Günther Mohr
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So oder so ähnlich funktioniert das auch im wahren Leben. Wird der Kreislauf von Waren und Geld unterbrochen oder nur verlangsamt, wie es zum Beispiel im Jahr 2008 bei der Finanzkrise geschehen ist, werden Menschen vorsichtiger, investieren und konsumieren weniger und der gesamte Wirtschaftsprozess kommt ins Wanken.
Schaut man sich die verschiedenen Ansätze über den Sinn und die Ziele der Wirtschaft an, so finden sich zwei klassische Antworten: Erstens will Wirtschaft aus den vorhandenen Ressourcen mit dem geringsten Aufwand den größten Nutzen ziehen. Diese Zielsetzung wird auch als Allokation bezeichnet. Zweitens gehört nach heutiger Übereinkunft ein ausreichendes Niveau von Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten für möglichst viele Menschen zur Wirtschaft.
Manchmal wird auch ein drittes Ziel, das der gerechten Verteilung der erarbeiteten Ressourcen, ergänzt. Wobei die Ökonomen hier sehr unterschiedlicher Meinung sind, ob die Wirtschaft wirklich eine gerechte Verteilung herstellen kann und soll. In der Perspektive der Wirtschaftswunderjahre war dies noch selbstverständlich. Das Thema Verteilungsgerechtigkeit ist im Zuge der neoliberalen Dominanz der 80er- und 90er-Jahre zeitweise in den Hintergrund getreten, um dann nach der Wirtschaftskrise ab 2008 wieder zu Aufmerksamkeit zu kommen. Der französische Ökonom Thomas Piketty hat kürzlich rege Diskussionen durch seine These ausgelöst, dass es eine radikale Umverteilung zugunsten der Kapitaleigner gebe (Piketty 2014). Seine schlichte Formel: Die Kapitalrendite, also das Einkommen aus Kapital, ist tendenziell höher als die Wachstumsrate, sprich, die Reichen bekommen vom Kuchen ein relativ größeres Stück ab.
Heute sollte man bei der Betrachtung der Wirtschaft ergänzend den Aspekt der Nachhaltigkeit, also die Berücksichtigung der langfristigen Folgen des Handelns und des Ressourcenverbrauches, erwähnen. Es ist allerdings streng genommen eine Unterfunktion der Allokation, der sinnvollen und effizienten Kombination der Ressourcen. Man muss nur die verschiedenen Naturressourcen entsprechend wertschätzen und eventuell auch finanziell bewerten.
Dabei wird die wichtigste Ressource heute oft vernachlässigt, nämlich die der menschlichen Lebenszeit und der psychohygienischen Gesundheit. Menschen werden wieder, wie es zu Beginn der Industrialisierung und dann im tayloristischen Menschenbild mit der »Klein-Klein-Optimierung« menschlicher Handgriffe gipfelnd schon einmal der Fall war, als reine Produktionsfaktoren gesehen. Anders sind die heutigen Phänomene der Arbeitsverdichtung, der Arbeitsintensität und der langen Arbeitszeiten mit entsprechenden Folgen wie Burn-out nicht zu erklären. Im 19. Jahrhundert führte der gigantische technische Fortschritt zu einer materiellen Verelendung der Menschen. Heute scheint der technische Fortschritt zu einer psychischen Verelendung mit dem Anstieg psychischer Krankheiten und der häufigen Diagnose Burn-out zu führen. Auf jeden Fall rückt die psychosoziale Gesundheit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Diese Welle wurde bereits von dem Konjunkturforscher Nefiodow vorhergesagt (Nefiodow 1999).
Die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert hat durch die neuen Produktionsmittel eine Veränderung der Produktionsverhältnisse (Eigentumsstrukturen, Machtverhältnisse) gebracht, wie Marx es nannte. Die technische Revolution des 20. und 21. Jahrhunderts bringt zumindest eine Veränderung der Kommunikation und der Beziehungen.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert Gesundheit als einen Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur als das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen. Dies ist ein sehr ambitioniertes Ziel.
Psychische Gesundheit ist laut WHO ein Zustand des Wohlbefindens, in dem der einzelne seine Fähigkeiten ausschöpfen und fruchtbar anbieten kann, die normalen Lebensbelastungen bewältigen kann und imstande ist, etwas zu einer Gemeinschaft beizutragen. Dazu kann auch die Wirtschaft beitragen. Sie könnte sich sogar dazu verpflichten.
Armut ist kein Rechenspiel
Der niederländische Ökonom Peter Lanjouw beschäftigt sich im Auftrag der Weltbank mit Armut und Ungleichheit in der Welt. Er hält eine Erhöhung der Armutsgrenze für nötig. Wer 1,75 Dollar oder weniger pro Tag zur Verfügung hat, soll als arm gelten. Bisher liegt die Grenze bei 1,25 Dollar pro Tag. Dies sei nicht mehr zeitgemäß, glaubt Lanjouw, weil lediglich die Veränderungen in der Berechnung der Kaufkraftparität, der so genannten PPP (Purchasing Power Parity) statistisch zu einer Halbierung der Anzahl der Armen in der Welt geführt habe. In einigen großen Schwellenländern ist die Anzahl der Menschen mit weniger als 1,25 Dollar zur täglichen Verfügung von 20 Prozent auf neun Prozent gesunken. In Indien allein ist die Zahl von 393 Millionen auf 100 Millionen Menschen gesunken. Ist aber wirklich die Armut in diesen Ländern kleiner geworden?
Die britischen Ökonomen Christopher Deeming und Bina Guhaju haben sich mit dem kleinen pazifischen Inselstaat Vanuatu beschäftigt. Dort leben 250.000 Menschen. Ein Fünftel bekommt überhaupt keinen Lohn. Der Rest lebt von Land- und Seewirtschaft. Bei einem zugerechneten Einkommen von einem Dollar pro Tag sind 5,4 Prozent der Kinder arm. Fragt man allerdings, inwiefern die Kinder ausreichend mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Obdach versorgt sind, gelten 17 Prozent der Kinder als arm (Deeming/ Guhaju, zit. nach Kaufmann: »Armut als Variable«, Frankfurter Rundschau, 18.4.2014). Insofern sagt ein Durchschnitt für den Einzelnen nicht viel aus. Solche Kennziffern sind aber für volkswirtschaftliche Einschätzungen oft ausschlaggebend und – wie man an diesen Beispielen sehen kann – leiten sie in die Irre.
Vom Überleben zum Gemeinwohl
Die Zwecke des Wirtschaftens korrespondieren mit einer Grundtendenz, die für Systeme generell gilt, nämlich dem Überlebenswillen. Diese wesentliche Grundlage des Lebens und Wirtschaftens ist auch den meisten wirtschaftstheoretischen Konzepten immanent. Allerdings stellt sich die Frage, ob das Überlebensprinzip im Sinne von Mehr an Materiellem heute für viele Menschen in den reichen Ländern wirklich noch eine erforderliche Maxime ist. Oder ist diese Orientierung lediglich ein Relikt der Vergangenheit? Psychologisch gesehen werden solche »mentalen Ladenhüter« oft unreflektiert beibehalten. Der Gedanke »Es ist nicht genug da«, beherrscht die Menschen seit Generationen, unabhängig davon, ob dies tatsächlich Realität ist. Dahinter steckt eine evolutionsgeschichtlich erlebte und damit im kollektiven Unbewussten der Menschen, wie C. G. Jung es nannte, vorhandene Reaktion. Der Wettbewerb um eine marginale Verbesserung auf schon hohem Niveau wird innerlich als Existenzbedrohung erlebt. Zieht man die Aufmerksamkeitsebenen des systemischen Modells heran, befindet man sich auf der transgenerationalen Ebene (siehe Kapitel »Aufmerksamkeit«) (Mohr 2014).
Politisch kann man das in der Wirtschaft herrschende sogenannte Knappheitsparadigma als Ideologie bezeichnen. Marxisten deuten es als den ständigen Zwang des Kapitals, sich selbst zu vermehren. Allerdings war – und manchmal gilt das sicher auch heute noch – das Knappheitserleben zunächst durchaus etwas Positives. Not macht erfinderisch, vermeldet ein Sprichwort. In der Psychologie spricht die Transaktionsanalytikerin Fanita English von einem Überlebenstrieb, den Menschen zuerst und meist mit archaischen Reaktionen bedienen, ehe sie vom Gestaltungstrieb geleitet werden (English 2004), der sicher ganz andere Lösungen produzieren kann. In lebensbedrohlichen Situationen schalten Menschen auf den »survival mode« (Überlebensmodus) (Brom 2014). Erlebte Knappheit scheint in den Menschen sehr tief verankert zu sein, weshalb man von einem Paradigma sprechen kann. So muss es heute bei der Knappheit nicht immer um Materielles gehen. Oft ist aber eine vermeintliche, »gefühlte« Knappheit