Systemische Wirtschaftsanalyse. Günther Mohr
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Systemische Wirtschaftsanalyse - Günther Mohr страница 7
Wir sind verbunden und vernetzt miteinander. Wenn wir darüber nachdenken, wieso wir so leben können, wie wir leben, wer unsere Nahrung produziert, für unser Dach über dem Kopf oder unsere Sicherheit sorgt, wird das unmittelbar klar. Manchmal ist es auch erst durch genaue Analyse erkennbar, wie vielfältig unsere Existenz von anderen Lebewesen in der Natur und deren Zuarbeit abhängig ist. Gerade die ständige Betonung der angeblich erstrebenswerten Individualität, beispielsweise durch die Werbung, ist ein deutlicher Hinweis auf die eigentlich vorhandene wechselseitige Abhängigkeit. Bei genauerer Betrachtung hat gerade die Wirtschaft durch ihre Institutionen Handel und Arbeitsteilung friedliche Alternativen entwickelt, die – auf faire Weise gelebt – der systemischen Verbundenheit der Menschen Rechnung tragen. Die Form des Zusammenwirkens, die sogenannte Interaktion zwischen den Elementen eines Systems, ist wichtiger als ihre vermeintlichen Eigenschaften oder Fähigkeiten. Der zweite Aspekt heißt:
Alle Phänomene sind auf dem Hintergrund eines Kontextes zu sehen.
Themen sind nicht in sich zeitlos und übergreifend zu betrachten, sondern immer auf dem Hintergrund eines bestimmten Kontextes. Der macht auch überraschende Entscheidungen möglich. Die Gunst der Stunde ist für manche wirtschaftspolitische Wendungen notwendig. So schlimm das Ereignis auch war: Ohne den Atomunfall im japanischen Fukushima im Jahr 2011 wäre die deutsche Entscheidung zum Atomausstieg nicht zustande gekommen. Es braucht einen Kontext, ein bestimmtes wahrgenommenes – man könnte auch sagen konstruiertes – Zusammentreffen von Variablen, um etwas möglich zu machen.
Keine Hungersnöte in Demokratien
Zwei Beispiele zeigen die Relevanz der Kontextgestaltung. Der indischamerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen, der sich mit dem brennenden Thema der Armut in der Welt beschäftigt hat, betont dazu die Wichtigkeit der Demokratie. Er stellt fest, dass es in demokratischen Gesellschaften, so arm sie auch sein mögen, nie eine Hungersnot gegeben habe. Demokratie konstruiere auf Lösungen orientierte Wirklichkeiten (Sen 2010). Gerade bei wirtschaftlichen Prozessen ist eine Neigung vorhanden, demokratische Errungenschaften zugunsten von vermeintlich ökonomisch notwendigen Aspekten infrage zu stellen.
In den 1990ern wurden manche Entscheidungen durch die föderale Struktur in Deutschland verlangsamt. Manche Ökonomen bezeichneten Deutschland damals als »German Patient«. Plötzlich, nach der Wirtschaftskrise 2008 ist diese Kritik völlig verstummt. Es wurde deutlich, dass gerade die durch die föderale Struktur begünstigte, auf vielen Füßen stehende, mittelständische Wirtschaft ein wichtiger Anti-Krisen-Faktor ist. Der gesellschaftliche Kontext ist, wie beide Beispiele zeigen, nicht von der Wirtschaft zu trennen.
Besonders gravierend ist der dritte Aspekt des Systemischen:
Jedes einzelne Teilsystem strebt danach, seine bisherige Struktur und Weltsicht zu erhalten und immer weiter zu erschaffen.
Lebewesen entwickeln eigene Steuerungsformen, die für sie selbst systemerhaltend sind. Auch wir Menschen konstruieren uns die Welt so, dass sie für uns passt. Schon unser Körper, unsere Hirnphysiologie und insbesondere unsere Sinnesorgane, die auch die Informationsgrundlage für Denken, Einstellungen und Gefühle bilden, sind auf den Selbsterhalt ausgelegt. Echte Veränderung bedeutet auf diesem Hintergrund auch eine echte Herausforderung. Die beiden Systemforscher Humberto Maturana und Francisco Varela haben diese Eigenbezogenheit jedes Systems in seiner evolutionär gewachsenen Struktur besonders betont. Eingriffe von außen in ein System sind nur unter besonderen Bedingungen möglich: »Es gibt keine instruktive Interaktion.« Man kann ein Humansystem – etwa einen Menschen oder eine Gruppe – nicht einfach per Instruktion zu etwas anderem bewegen, das nicht seinem ursprünglichen Programm entspricht. Es sei denn, man koppelt dies sehr genau an seine Struktur an. Dieses Pacing (Mitgehen mit dem anderen) ist die Voraussetzung für Leading, also irgendeine Form von Führung. Dies stellen alle »Reformer« immer wieder fest. Auch viele Projekte der Entwicklungspolitik mussten hier Lehrgeld bezahlen, weil sie die Strukturmechanismen eines fremden Systems nicht verstanden und nicht passend ankoppeln konnten.
Die strukturerhaltende Funktion zeigt beispielsweise auch der schon erwähnte Besitztumseffekt. Man kann ein System zu nichts zwingen, man kann es zwar vernichten, aber zu nichts zwingen. Mit dieser Feststellung Maturanas und Varelas wird die Selbstbezogenheit von Systemen noch deutlicher (Maturana/Varela 1987):
Systemisch intervenieren bedeutet, aus der aktuellen Situation heraus unter Kenntnis des Bisherigen Veränderungen einzuleiten.
Systemisch bedeutet in diesem Sinne auch, pragmatisch vorzugehen. Max Weber hat die Tendenz zur Rationalität, aber auch zur Bürokratisierung beschrieben. Unter den »Großen Vier« – Marx, Nietzsche, Freud, Weber – ist er vielleicht der systemischste, weil er keine Heilslehre entwickelt hat, keine neue Gesellschaft wollte, keinen neuen Menschen entwickelte, keine Befreiung vom Trieb erstrebte, sondern Einzelhypothesen für die Entwicklung aufstellte.
Klein und groß, Mikro und Makro, individuell und systemisch
Für die Wirtschaft gibt es ein wesentliches systemisches Spannungsfeld, das zwischen der Mikro- und der Makroperspektive. Die Mikroperspektive beschäftigt sich mit dem Handeln des einzelnen Wirtschaftssubjekts, also des privaten Haushaltes, des Unternehmens oder eines Staatsorgans. Die Makroperspektive beschäftigt sich mit dem Zusammenwirken des ganzen Systems. Diese Perspektive korrespondiert interessanterweise mit der Polarität der individuellen und der systemischen Sichtweise.
Die systemische Perspektive, also die Makroebene einzunehmen ist für uns Menschen schwer zu begreifen. Darauf wies schon der bekannte systemische Theoretiker Matthias Varga von Kibéd hin (Varga v. Kibed o. J.). Menschen sind im systemischen Denken wenig geübt, da es ein Abstrahieren und ein Lösen vom kurzfristigen Erleben erfordert. Es liegt Menschen normalerweise näher, vom Einzelnen auf das Ganze zu schließen. Wenn ich wenig Geld habe, muss ich sparen. Das gilt für eine Familie und ein Unternehmen. Für eine gesamte Volkswirtschaft gilt dies aber nicht unbedingt. Wie die Wirtschaftshistorie mehrfach gezeigt hat, kann dies fatale Folgen haben, wie beispielsweise die restriktive Wirtschaftspolitik in Deutschland in den 1920er-/30er-Jahren, die oft mit dem Namen des Reichskanzlers Heinrich Brüning in Verbindung gebracht wird. Unterbleibt die ergänzende Nachfrage des Staates, werden dem gesamten Wirtschaftskreislauf Mittel entzogen. Wenn der Staat notwendige Investitionen unterlässt, müssen Unternehmen ihre Mitarbeiter entlassen, die dann wiederum kein Geld zum Konsumieren haben. Die Schraube dreht nach unten, die Situation spitzt sich zu. Seitdem gilt, dass ein Staat in einer Krisensituation investieren muss, auch wenn es paradox klingt. Man muss wie in einer Vogelperspektive einen Abstand zu den Dingen gewinnen, um besser sehen zu können. Die Makroebene, als deutlich systemische Ebene der Wirtschaft, braucht eine eigene Perspektive.
Systemische Transaktionsanalyse
Die Entscheidungen des einzelnen Individuums und die Bewegungen des Gesamtsystems Wirtschaft hängen zusammen, haben Rückwirkungen aufeinander und oft ist ihr Zusammenhang nicht vorhersehbar. Hier bewahrheitet sich der alte Spruch: »Prognosen sind vor allem schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen.« Eine interessante Methodenkombination, um dieses Spannungsfeld zu betrachten, stellt die systemische Transaktionsanalyse dar. Sie verbindet den systemischen Ansatz mit der Transaktionsanalyse, die auf individuelle und überschaubare Beziehungskonstellationen gerichtet ist. Die Transaktionsanalyse stellt dabei eine Art Kernkonzept der Psychologie dar, weil sie die Verhaltensebene mit tiefenpsychologischer Betrachtung und humanistischem Menschenbild verbindet (Mohr 2008, 2010). Die Transaktionsanalyse besticht durch eine Orientierung am konkreten Verhalten der Menschen,