Wohltöter. Hansjörg Anderegg
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Читать онлайн книгу Wohltöter - Hansjörg Anderegg страница 6
»Zwei Gewaltverbrechen binnen wenigen Stunden! Wie gedenkt die Polizei, die beunruhigte Bevölkerung zu schützen?«
»Hat die Polizei die Lage noch im Griff?«
Inspector Fry lief rot an, als er die Journalistenmeute erblickte. »Wer zum Teufel …« Man hörte förmlich seine Zähne knirschen. »Informieren Sie die Detectives, Sellick. Ich muss mich um die Bluthunde kümmern.«
Er stapfte wütend auf den Mob zu, während Sellick sie zur Leiche führte. »Wir wurden um 19:52 Uhr alarmiert«, erklärte er. »Die Wirtin vom ›Hampton Inn‹ hat uns angerufen. Zwei Zeugen haben gesehen, wie der Körper von der steigenden Flut angeschwemmt wurde. Wir sind um 20:17 Uhr eingetroffen, haben sofort alles abgesperrt.«
»Wo sind die Zeugen?«, wollte Ron wissen.
»Sie warten im Pub. Es ist das Ehepaar Myers. Sie haben die Szene beim Strandspaziergang beobachtet. Die Aussagen sind bereits protokolliert.«
Chris beugte sich zum Toten hinunter, betrachtete ihn eingehend, ohne ihn zu berühren. Es war ein hagerer junger Mann, dunkelhäutig, mit langem, schwarz glänzendem Haar. Inder oder Pakistaner, wie die Phantomleiche. Aber dieser Tote trug zerfetzte Kleider, die einmal königsblau gewesen waren. Hose und Jacke wie ein Spitalpfleger und nichts darunter, wie es schien. »Keine Wunden, soweit ich sehen kann. Erinnert sehr an Ihren ersten Fall von heute Mittag, was meinen Sie, Constable Sellick?«
»Ich meine, er hat sich wohl nicht selbst wieder angezogen, aber nach der Beschreibung könnte es sein Bruder sein. Für mich sehen diese Leute sowieso alle gleich aus.«
Sie richtete sich auf. »Warten wir ab, was die Pathologie dazu sagt.«
Inspector Fry trat wieder hinzu. »Brauchen Sie die Zeugen noch? Ich meine, wir können sie nach Hause schicken.«
»Ich möchte mich nur kurz mit ihnen unterhalten, wenn das O. K. ist.«
Der Inspector zuckte die Achseln.
Eine Welle züngelte bis zu ihren Füssen. Die steigende Flut drohte, den Leichnam wieder fortzuspülen. Ron gab Sellick einen Wink, und gemeinsam zogen sie den Toten näher ans Ufer, ohne seine Stellung zu verändern. Der Constable hielt Wache an der Fundstelle, während sie dem Inspector zum Pub folgten.
Plötzlich blieb Ron stehen und sagte hastig: »Die Anwohner der Küste in der Umgebung müssen noch befragt werden.«
»Stellen Sie sich vor«, schnaubte der Inspector, »daran haben wir auch schon gedacht. Unsere Leute sind seit einer Stunde am Klinken putzen. Die Wasserschutzpolizei ist auch längst informiert.«
»Entschuldigung«, murmelte Ron kleinlaut und trottete weiter.
Die Befragung des Ehepaars Myers ergab nichts, was sie nicht schon wusste. Das hatte sie auch nicht erwartet. Ihr ging es nur darum, die Zeugen einschätzen zu können. Die beiden älteren Leute waren regelrecht erschüttert von ihrer Entdeckung. Sie spielten unmöglich Theater, schloss Chris nach kurzer Zeit. Sie durften mit Bestimmtheit davon ausgehen, dass der Tote tatsächlich durch die Strömung an dieser Stelle gestrandet war.
»Endlich«, rief Ron ärgerlich, als eine Stunde später die ersten Blaulichter vor den Fenstern des ›Hampton Inn‹ auftauchten. Der Wagen des Einsatzleiters parkte vor dem Haus, dahinter der Minibus der Kriminaltechnik. Zuletzt fuhr der Rettungswagen vor. Noch bevor er anhielt, öffnete sich die Tür auf der Beifahrerseite. Eine gertenschlanke Frau im blauen Overall sprang elegant aus dem Wagen. Ihr rotes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie musste mindestens vierzig sein, benahm sich wie dreißig.
»Hoppla, jetzt wird’s spannend«, grinste Ron.
Die berüchtigte Pathologin. In diesem Fall sicher die wichtigste Person am Fundort. Das gleißende Licht der Scheinwerfer flammte auf, blendete Chris für einen Augenblick. Dann folgte sie Ron, der langsam auf die Frau zuging, während der Inspector den Einsatzleiter informierte.
»Guten Abend Dr. Barclay«, grüsste Ron überaus freundlich.
Die Rothaarige ignorierte seine ausgestreckte Hand, schob ihn einfach beiseite, bevor er weitersprechen konnte. Sie hatte nur Augen für Chris. »Großer Gott, wen haben wir denn da?«, strahlte sie und trat so nahe an Chris heran, dass sie einen Schritt zurückwich. »Wollen Sie mir das süße Kind nicht vorstellen, Detective?«
Chris konnte nicht glauben, was sie hörte. Die Pathologin litt offensichtlich nicht unter Minderwertigkeitskomplexen. Behandelte sie jeden Neuen wie einen Schüler am ersten Schultag? Oder war es ihre Art, mit ihr zu flirten? Die Antwort interessierte sie nicht wirklich. Es war spät. Sie hatte genug für heute.
»DS Hegel, freut mich«, sagte sie kühl, streckte ihr dennoch artig die Hand entgegen.
»Sieh an, sie kann reden«, freute sich die seltsame Pathologin.
Sie hielt die Hand des neuen Sergeant ein wenig zu lang fest. Ihr Blick klebte an Chris’ Lippen, als wollte sie die Lebensenergie des ›süßen Kindes‹ restlos aufsaugen. Dabei strotzte sie selbst vor Energie. Auf Chris wirkte sie wie eine gespannte Feder. Mit Unbehagen stellte sie fest, dass die Männer in der Nähe die Szene beobachteten. Dr. Barclay mochte nicht ganz bei Trost sein, aber sie schlug jeden sofort in ihren Bann. Chris versuchte es mit Ironie:
»Wenn Sie die Leiche untersuchen wollen, müssen Sie mich jetzt loslassen, Doctor.«
»Ungern«, schmunzelte die Pathologin. Bevor sie den festen Griff löste, fügte sie mit rauchiger Stimme hinzu: »Morgen will ich alles über Sie wissen, Detective Sergeant Hegel.«
Sie nahm ihren Koffer aus dem Auto und ging zum Strand. Chris folgte ihr sichtlich verstört, was Ron mit zufriedenem Grinsen quittierte.
»Ich habe Sie gewarnt«, murmelte er so leise, dass es die Pathologin nicht hören sollte.
Sie blieb augenblicklich stehen, drehte sich um und bedachte Ron mit einem eisigen Blick. »Ich mag es übrigens gar nicht, wenn man hinter meinem Rücken tuschelt.« Dann wandte sie sich an Chris. Ein spöttisches Lächeln umspielte ihren Mund, als sie mahnte: »Vergessen Sie einfach, was er gesagt hat, meine Süße. Der Mann versteht nichts von Frauen.«
»Sie umso mehr«, flüsterte ihr Ron grinsend ins Ohr.
Sellick stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, als die Pathologin sich endlich über den Leichnam beugte. Er entfernte sich rasch in Richtung Pub. Dr. Barclay betrachtete den Toten eingehend, tastete ihn ab, suchte nach verborgenen Verletzungen, maß Körper- und Wassertemperatur.
Schließlich richtete sie sich auf. »Kann mir mal jemand helfen? Wir müssen ihn auf den Rücken drehen.«
Zum ersten Mal sah Chris das Gesicht des Toten. Kein schöner Anblick, die blauen, fast weißen Lippen und die eingefallenen, schwarzen Augen, die einen anklagend anstarrten. »Können Sie den Todeszeitpunkt eingrenzen?«, fragte sie.
»Schwierig zu sagen, wenn man nicht weiß, wie lange der Körper im Wasser gelegen hat. Die Totenstarre ist vom Sartorius abwärts noch nicht voll ausgeprägt. Die niedrige Wassertemperatur verzögert den Prozess. Ich schätze, der Mann ist vor vierzehn bis zwanzig Stunden gestorben.«
»Ertrunken?«
»Vielleicht.