Vollzug. Hansjörg Anderegg

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Vollzug - Hansjörg Anderegg

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Firmengründer und CEO, Professor Dr. Niklas Volkmann, brachte es auf den Punkt:

      »Als Naturwissenschaftler neige ich zu Nüchternheit und gesunder Skepsis, aber heute darf ich mit gutem Gewissen behaupten: Wir stehen an der Schwelle eines neuen technischen Zeitalters. Die ›TransX‹ hat das bisher Unmögliche möglich gemacht: die sichere und endgültige Beseitigung des Atommülls. Erst war es nicht mehr als ein verwegener Traum, von dem man kaum einem Wissenschaftler erzählen durfte, ohne sich lächerlich zu machen. Viele von uns wissen ein Lied davon zu singen. Doch nun hat sich das Blatt gewendet. Wir werden der Welt beweisen, dass es nur einen richtigen Weg gibt, das Problem des Atommülls zu lösen, unsern Weg. Seit mehr als einem halben Jahrhundert, seit der erste Kernreaktor ans Netz ging, haben Wissenschaft und Technik vergeblich nach einem Weg gesucht, die strahlenden Abfälle sicher zu entsorgen. Wir wissen: Vergraben und vergessen ist keine Lösung. Einzig unsere hier am Rande des beschaulichen Seebads Lubmin entwickelte Technik erlaubt es, gefährliche radioaktive Stoffe mit Halbwertszeiten von Tausenden und Millionen Jahren endgültig zu beseitigen.«

      Applaus dankte ihm für diese Streicheleinheiten. Mit ernster Stimme fuhr er weiter, ganz der väterliche Chef:

      »Niemand sonst hat das bisher geschafft. Darauf dürfen wir stolz sein, und darauf erhebe ich mein Glas. Auf die glänzende Zukunft unserer Firma!«

      Niemand außer den in der Halle versammelten Wissenschaftlern, Ingenieuren und Technikern kannte die Geheimnisse des komplexen Verfahrens. Nicht einmal die Familien wussten, womit sich ihre Ehemänner oder Gattinnen bei ›TransX‹ wirklich beschäftigten. Ein einziger Externer war zu diesem ersten, geschlossenen Teil der Feier geladen: Dr. Lukas Voss, der stellvertretende Leiter des Fachbereichs Sicherheit nuklearer Entsorgung beim Bundesamt für Strahlenschutz. Er trat hoch erhobenen Hauptes ans Mikrofon, ein stolzes Lächeln auf dem Gesicht, als hätte er selbst das Problem gelöst, an dem sich sein Amt seit der Gründung die Zähne ausbiss.

      »Verehrter Professor Volkmann, meine Damen und Herren«, begann er. »Ich will mich kurz fassen. Zuerst möchte ich Sie alle auch im Namen des BfS zu Ihrem außerordentlichen Erfolg beglückwünschen. Professor Volkmann hat die Bedeutung Ihrer Leistung eindrücklich geschildert. Dem ist nichts beizufügen. Denken wir aber bei aller berechtigten Freude daran, dass der Weg noch nicht zu Ende ist. Noch sind nicht alle Tests abgeschlossen, wie wir wissen. Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass auch die letzten Versuche mit der Produktion in industriellem Maßstab von Erfolg gekrönt sein werden. Bis es aber soweit ist, muss ich Sie bitten, weiterhin absolutes Stillschweigen gegen außen zu bewahren. Nach Abschluss der Tests wird die Öffentlichkeit staunend zur Kenntnis nehmen, dass sich das leidige Endlagerproblem sozusagen über Nacht in eine unbedeutende Fußnote der Geschichte ›transmutiert‹ hat. Und nun: Genießen Sie das Fest.«

      Jonas Ullrich beobachtete mit einem Gefühl von Bitterkeit, wie sich die Halle vor dem Höhepunkt der Feier mit Angehörigen seiner Kollegen füllte. Wie jedes Mal in Gesellschaft fröhlicher Paare und Familien bedrückte ihn die innere Leere besonders stark. Seit Johannas Tod lebte er zurückgezogen in seinem Schneckenhaus, aus dem er nur hervorkroch, um in der Firma zu arbeiten. Er hielt sich abseits der Gruppen, die sich spontan bildeten. Bekannte und Freundinnen, die sich gemeinsam am Büfett verpflegten, die Gelegenheit nutzten, Erlebnisse mit Kindern und Urlaubserinnerungen auszutauschen und sich über den braunen Sumpf in Rostock aufzuregen, der auf Muslime einprügelte, als hätte es keinen NSU-Prozess gegeben. Zu solchen Diskussionen konnte er nichts beitragen. Nur aus Anstand blieb er, um sich wenigstens den Anfang der Darbietung anzuhören, die Volkmann als Überraschung angekündigt hatte.

      Anna Volkmann bat die Gäste, Platz zu nehmen. Hand in Hand mit ihrem Gatten kündigte sie die Überraschung an:

      »Sie ist in den großen Konzertsälen Europas und bald in den USA zu Hause. Sie jettet zwischen Wien, Berlin, Mailand, Paris und London hin und her. Glauben Sie mir, es war nicht leicht, einen freien Termin für diesen Anlass in ihrem Kalender zu finden. Aber jetzt dürfen wir uns auf einen ganz besonders glanzvollen Höhepunkt freuen, den man sonst nur für teures Geld in den großen Metropolen erlebt.«

      Sichtlich gerührt drückte sie Professor Volkmanns Hand und sah mit geröteten Wangen zu ihm auf, stolz wie ein Mädchen nach bestandener Prüfung. Dann sprach sie mit bewegter Stimme weiter:

      »Jetzt ist sie für uns da, die wunderbare Pianistin Leonie Volkmann, unsere Tochter.«

      Applaus brandete auf. Jonas Ullrich klatschte einige Takte mit, ohne auf die elegant in rote Seide gekleidete Frau zu achten, die wie aus dem Nichts auftauchte, von ihren Eltern mit Umarmungen und Küsschen begrüßt wurde und sich dann artig vor dem Publikum verbeugte. Zwei Arbeiter räumten die Stellwände weg, die den Konzertflügel verbargen. Leonie Volkmann setzte sich ans Instrument. Der Applaus ebbte ab, das Getuschel verstummte. In der Halle war es so still, dass Jonas sein eigenes Atmen hörte, als die ersten, leisen Töne erklangen. Leonie brachte mit ihrer Kunst den Flügel zum Singen. Sie spielte ein romantisches Stück, das wehmütig, verträumt begann und in überbordender Freude endete. Er kannte das Stück nicht, aber die Musik rührte ihn beinahe zu Tränen, wie jedes schöne Klavierspiel, weil es ihn an seine Johanna erinnerte. Leonie erhob sich und dankte lächelnd für den Beifall; die große Künstlerin, die eine Fabrikhalle mit schlechter Akustik genauso zum Klingen brachte wie den Konzertsaal der Berliner Philharmonie. Sie sprach ein paar Worte ins Mikrofon, um das nächste Stück anzukünden, ein Nocturne von Chopin.

      Jonas Ullrich hörte ihre Stimme zum ersten Mal. Die Stimme seiner verstorbenen Johanna! Wie vom Donner gerührt, starrte er die Frau an. Sein Puls spielte verrückt. Schweißperlen traten auf die Stirn. Ein kalter Schauer jagte ihm über den Rücken. So etwas war unmöglich. Es musste Einbildung sein. Leonie begann zu spielen, aber er konnte nicht mehr ruhig sitzen bleiben. Die Frau mit Johannas Stimme zog ihn mit unwiderstehlicher Kraft an. Behutsam, sich stumm links und rechts entschuldigend, näherte er sich dem Flügel. Er setzte sich auf einen freien Stuhl in der vordersten Reihe. Leonies Gesicht blieb im Halbdunkel, während sie spielte. Sobald sie sich zum zweiten Mal erhob, um sich zu verbeugen, erkannte er die Gesichtszüge deutlich. Sein Atem stockte. Vor Schreck sprang er auf, denn vor ihm stand Johanna, genauso wie sie ihm seit dreißig Jahren jeden Abend vor dem Einschlafen auf dem Foto zulächelte.

      Drehe ich durch?, war sein erster Gedanke, doch es gab keinen Zweifel: Leonie Volkmann glich seiner Frau Johanna aufs Haar. Auch um ihn herum erhoben sich die Zuhörer, um die Künstlerin mit stehender Ovation zu feiern. Er aber zog sich in sein Schneckenhaus zurück. Unberührt von der Begeisterung, blendete sein Geist die Umgebung aus und versuchte nur noch, das Wunder zu begreifen, das diese Frau für ihn darstellte.

      Die Erinnerung an den schlimmsten Tag seines Lebens schlich sich in seine Gedanken. Das Gesicht der Frau am Flügel verlor die Farbe wie Johannas Gesicht, nachdem ihr Blut sich mit dem Wasser in der Wanne vermischt hatte. Er kniete neben seiner Frau, die leblose Hand an seinem Mund, unfähig zu erfassen, dass sie ihn für immer verlassen hatte. Ein Jahr lang vegetierte sie mehr als sie lebte, versuchte den Verlust ihrer Tochter zu ertragen. Nun hatte der Schmerz sie besiegt. Er war zu groß für die junge Mutter. Sie gebar Marie, während er in Bautzen einsaß. Die Stasi dichtete ihm nach seinem Austritt aus dem medizinischen Team der DDR-Olympiamannschaft verbotene Auslandskontakte an. Er wollte den Doping-Wahnsinn nicht mehr mitmachen. Als ehemaliger Insider stellte er eine Bedrohung für die Brüder dar. Wahrscheinlich war das der Grund, für die systematischen Schikanen des Ministeriums für Staatssicherheit, die er und Johanna danach ertragen mussten. Es dürfte die Folterknechte der Stasi besonders gereizt haben, ihn erst Tage nach der Geburt ihres Kindes freizulassen. Bis dahin hatten sie ihm jeden Kontakt zu Johanna verweigert. Für ihn war die DDR zur Hölle geworden, aber der Gedanke an Johanna und das Kind entschädigte ihn für alles. Glücklich kehrte er heim, stieß die Wohnungstür auf und fand seine Frau zusammengesunken, mit blassem Gesicht, teilnahmslos am Küchentisch sitzend, den Sparschäler in der Hand, die unberührten Kartoffeln daneben.

      »Was

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