Vollzug. Hansjörg Anderegg

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Vollzug - Hansjörg Anderegg

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Gelegenheit, mehr über den redseligen und doch so verschlossenen Jochen Preuss zu erfahren.

      Bethioua, Algerien

      Mitternacht war vorbei. In den Häusern der kleinen Gemeinde Bethioua an der algerischen Küste brannten keine Lichter. Nur die riesige Industrieanlage im Westen war taghell erleuchtet, als die zwei vermummten Männer das Paket, schwer wie ein Koffer voller Steine, vorsichtig über die Rampe ins Schlauchboot rollten. Sie mussten möglichst jede Erschütterung vermeiden. So hatte man sie instruiert und daran hielten sie sich, ohne zu wissen, was sie transportierten. Sie sahen sich wortlos um, bevor sie die Leine lösten. Niemand hatte sie bemerkt. Der Jüngere der beiden startete den Motor. Er ließ die Maschine nur auf niedriger Stufe laufen, um möglichst wenig Lärm zu verursachen. Sie waren nicht in Eile. Die wenigen Kilometer schafften sie auch im Schneckentempo bis zum vereinbarten Zeitpunkt.

      Ein Windstoß schleuderte das ›RIB‹ so heftig gegen die Holzpfähle des alten Docks, dass der Behälter hart an die Hülle des Boots prallte. Der Mann am Steuer ließ vor Schreck das Ruder fahren.

      »Merde, der verfluchte Scirocco!«, rief er dem Pelikan hinterher, dessen Nachtruhe sie gestört hatten.

      Der Wind sorgte für ungewöhnlich hohe Wellen. Unter normalen Umständen wären sie niemals bei diesem Wetter ausgelaufen, aber das Paket musste heute Nacht aufs Schiff, und die Bezahlung war besser als sonst.

      »Halt das verdammte Ding fest!«, schrie er seinen Partner an, der tatenlos zusah, wie das Paket gefährlich hin und her rutschte.

      In weitem Bogen kämpften sie sich durch die raue See dem Dock 3 des Flüssiggas-Terminals entgegen. Der Steuermann achtete darauf, nicht in den Lichtkegel der Scheinwerfer zu geraten. Die letzten Meter entschieden über Erfolg oder Misserfolg des Transports. Im schlimmsten Fall würden sie die Ladung ins Meer kippen, falls die Küstenwache unerwartet auftauchte. Das war bisher nur einmal mit einer Lieferung Koks geschehen. Ein Jahr lang mussten sie danach umsonst arbeiten, aber immerhin lebten sie noch.

      Die Betankung der blauen ›Baleine‹ mit den leuchtend weißen Buchstaben ›LNG‹ am Rumpf war noch im Gang. Der Umstand erleichterte ihr Vorhaben, da die Aufmerksamkeit der Crew dem Terminal, der Pipeline und den Schläuchen und Ventilen für das Flüssiggas galt. Nur der Empfänger der Ware würde sich für sie interessieren.

      Wie erwartet, öffnete sich backbords eine Luke, kurz bevor sie anlegten. Der Ladebaum schwenkte aus. Sie befestigten das Paket am Geschirr des Flaschenzugs, sahen zu, wie die Fracht im Bauch der ›Baleine‹ verschwand. Ohne ein Wort zu wechseln, legten sie wieder ab, erleichtert, das unheimliche Zeug los zu sein.

      

       Kapitel 4

      Marseille

      Die ›Bonne Mère‹, Marseilles ›Gute Mutter‹, grüßte vom Kirchturm von Notre-Dame de la Garde, als Jochen Preuss den Mercedes am Zaun der Brache am Boulevard de la Méditerranée parkte.

      »Manon würde uns jetzt beschwören, auf keinen Fall auszusteigen«, sagte er schmunzelnd zu seiner Begleiterin. »Sie bekäme einen Herzanfall, wenn sie wüsste, dass ich hier im Ghetto überhaupt anhalte.«

      Sein Kommentar beruhigte Chris nicht sonderlich. Mit gemischten Gefühlen trat sie auf das Haus zu, das eher wie eine Garage wirkte. Der Kalk an den Wänden bröckelte überall dort, wo ihn nicht Plakate zusammenhielten. Zwei Teenager beobachteten sie aus einem düsteren Hauseingang. Jochen Preuss nickte ihnen mit einem Handzeichen freundlich zu, worauf einer ebenso freundlich auf den Boden spuckte.

      »Ist das eine Art Geheimsprache?«, fragte sie irritiert.

      Preuss lachte. »Könnte man sagen. Keine Sorge, die beiden sind harmlos. Sie passen auf mein Auto auf.«

      »Ihr Vertrauen möchte ich haben.«

      Er stieß die Tür auf. Lebhaftes Geplauder empfing sie.

      »Schade, dass Ihr Verlobter nicht mitkommen konnte«, sagte Preuss.

      Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht … Er hat es nicht so mit dem Sozialen, und er muss wirklich an seinem Referat für Algier arbeiten. Ich frage mich, wieso die den Ärztekongress ausgerechnet in Algerien durchführen müssen.«

      »Die Veranstaltung hat Symbolcharakter. Nach dem arabischen Frühling will sich Algerien als stolze, fortschrittliche Nation präsentieren. So ein hochdotierter Ärztekongress bringt willkommenes Prestige – und Devisen.«

      Eine Frau um die fünfundzwanzig mit weißem Kopftuch und auffallend großen, schwarzen Augen kam ihnen entgegen. Preuss stellte sie vor:

      »Das ist Amira Saidi. Sie ist Lehrerin und die gute Seele dieser Einrichtung. Amira, das ist Dr. Chris Hegel. Sie ist zu Besuch und interessiert sich für unsere Arbeit hier.«

      Amira schüttelte ihr lächelnd die Hand und hieß sie willkommen.

      »Es herrscht gerade ein ziemlicher Betrieb«, entschuldigte sie die lautstarke Unterhaltung im Hintergrund. »Die Schüler haben die Ergebnisse der Vorprüfung bekommen.«

      »Das ist also eine Schule?«, fragte Chris mit einem Blick auf Jochen Preuss. Ihr Französisch klang etwas eingerostet, aber doch verständlich.

      »So etwas Ähnliches«, antwortete er. »Amira und ihre Kollegen bemühen sich, jungen Leuten eine zweite Chance zu geben. Es sind Schulaussteiger und Kinder, die wegen ihres Immigrationshintergrundes besondere Schwierigkeiten haben. Diesen jungen Leuten geben Amira und die andern zwei Lehrer gratis Nachhilfeunterricht.«

      »Sie werden vom Staat unterstützt, nehme ich an«, fragte Chris die gute Seele.

      Amira lächelte säuerlich. »Ein wenig, und es wird immer weniger. Schulen, vor allem diese Art Einrichtungen für Benachteiligte, sind immer das erste Ziel von Sparübungen. Wir hätten längst aufgeben müssen ohne Monsieur Preuss.«

      »Ach, Sie sind der Sponsor?«

      Jochen Preuss schüttelte den Kopf. »Das würde meine finanziellen Möglichkeiten bei Weitem übersteigen. Ich – koordiniere lediglich.«

      »Sie sind zu bescheiden, Monsieur«, widersprach Amira. Zu Chris gewandt, sagte sie: »Monsieur Preuss hat sehr gute Verbindungen in den Süden, wo die Reichen von Marseille wohnen. Er sorgt dafür, dass Sponsorgelder fließen.«

      »Man tut, was man kann«, wehrte Preuss bescheiden ab. »Erst habe ich versucht, den jungen Leuten selbst etwas Kunstverständnis beizubringen. Damit bin ich aber kläglich gescheitert. Es ist wichtiger, dass die Kinder erst mal richtig Französisch lernen. Schöne Künste sind dann die nächste Kulturstufe.«

      Chris war sprachlos. Jochen Preuss wandelte sich gerade vom etwas redseligen, geruhsamen Rentner zum seriösen Sozialarbeiter, der nicht nur Kinder unterstützte, die sonst auf der Straße landen würden, sondern auch Amira und ihren Kollegen bezahlte Arbeit verschaffte. Sie verstand immer weniger, weshalb seine Frau Manon nichts davon wissen wollte.

      »Ich müsste kurz etwas mit Amira besprechen«, sagte er, »dauert nicht lang. Sehen Sie sich in der Zwischenzeit ruhig um.«

      Die beiden zogen sich in die Nische mit dem antiken Computer zurück, die als Büro diente. Neugierig schlenderte sie in die Richtung,

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