Vollzug. Hansjörg Anderegg

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Vollzug - Hansjörg Anderegg

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hingen an seinen Lippen, während er bekanntgab, worauf alle warteten:

      »Der 13. Juni.«

      Côte d‘Azur

      Chris spürte, wie Jamie sie aus den Augenwinkeln beobachtete. Sie war keine gute Gesellschafterin. Auf dem Flug von Frankfurt nach Nizza hatte sie kaum ein Wort gesprochen. Nun saß sie teilnahmslos auf dem Beifahrersitz des Mietwagens und ließ eine der schönsten Landschaften Europas vorüberziehen, ohne sie zu beachten.

      »Es war die richtige Entscheidung«, sagte Jamie unvermittelt.

      Da sie nicht antwortete, fügte er hinzu:

      »Dein Partner braucht jetzt einfach Ruhe und Zeit, um zu genesen. Daran kannst du auch in Wiesbaden nichts ändern.«

      »Trotzdem mache ich mir dauernd Vorwürfe«, murmelte sie. »Ich kriege das Bild von Sven nicht aus dem Kopf, wie er nur durch Maschinen am Leben erhalten wird.«

      Jamie schüttelte den Kopf. »Da irrst du dich. Sein Körper hält ihn am Leben. Die Maschinen dienen nur der Unterstützung der Atmung und des Heilungsprozesses. Er wird wieder gesund. Für einmal darfst du den Ärzten ruhig vertrauen, wenn sie so etwas behaupten.«

      »Was soll das jetzt wieder heißen?«, brauste sie auf.

      »Nichts, was meinst du?«

      Mit unschuldiger Miene konzentrierte er sich auf den gelben Lamborghini vor ihnen, der zu einem Überholmanöver ansetzte. Er schloss in die Lücke auf, die der Zuhälter-Bolide hinterließ, bevor er ihr aufmunternd zulächelte.

      »Ist doch toll diese Gegend, findest du nicht?«

      »Die Autobahn!«

      »Ich meine all die schönen Dinge neben der Autobahn: die Pinienwälder auf den Hügeln, das Grün der Büsche auf dem roten Fels …«

      »Porphyr.«

      »Wie bitte?«

      »Der rote Fels heißt Porphyr. Es ist ein Gefüge aus verschiedenen vulkanischen Gesteinen mit einem hohen Anteil an Feldspaten. Das Massif de l‘Estérel ist bekannt dafür.«

      Er brach in lautes Gelächter aus.

      »Danke für die Gratisvorlesung, Frau Professor. Immerhin hast du mitbekommen, wo wir uns gerade befinden.«

      »Steht auf dem Navi.«

      Sie fühlte sich doppelt schuldig, in die paar Tage Zwangsurlaub an der Côte d‘Azur eingewilligt zu haben. Sie war ein Feigling, der vor dem rauen Alltag des Jobs flüchtete, und die miserable Laune würde ihrem Geliebten die Freude am ersten Besuch Südfrankreichs gründlich verderben.

      Am Ortsausgang von Sainte-Maxime kippte die Stimmung. Die Bucht von Saint-Tropez öffnete sich vor ihren Augen, als wollte sie die Fremden in die Arme schließen. Das Meer schimmerte in allen Blautönen, reflektierte die warmen Strahlen der hochstehenden Sonne direkt in ihr Herz. Sie streichelte Jamies Hand am Steuer mit dem Ende ihres Haarzopfs, das ein rotes Seidenband zu einem neckischen Pinsel bündelte, und flüsterte:

      »Entschuldige. Du hast recht. Es ist wunderschön hier. Aber das Beste ist, dass du bei mir bist.«

      »Das denke ich auch, ich meine umgekehrt – also, dass du …«

      »Schon verstanden«, lachte sie.

      Sie liebte es, wenn er stotterte. Das Gesicht, das er dabei machte, löste regelmäßig Hormonschübe bei ihr aus.

      »Ist es noch weit?«, fragte sie unschuldig.

      »Fünf Minuten, schätze ich.«

      Port Grimaud, das künstliche Städtchen am inneren Ende der Bucht, grüßte sie mit einem unübersehbaren Verbotsschild: Zufahrt nur für Berechtigte. Es markierte gleichzeitig das Ende der Weisheit des Navigationsgeräts. »Sie haben Ihr Ziel erreicht«, verkündete die nette Dame.

      »Jetzt wird‘s schwierig«, murmelte Jamie, als er auf dem Parkplatz anhielt.

      Sie stiegen aus, um den Weg zur Rue du Ponant zu suchen. Die Siedlung bestand aus einem verwirrenden Netz miteinander verbundener Landzungen und Inseln. Ihr schien, die Anlage diente einzig dem Zweck, möglichst viele Anlegeplätze für teure Jachten zu schaffen. Das war den Architekten hervorragend gelungen. Die romantische Seite von Port Grimaud offenbarte sich ihnen, als sie später im Schritttempo über die Brücke am Ende der Rue du Ponant fuhren.

      »Wir sind in Venedig!«, rief sie überrascht aus.

      Die steinerne Brücke überquerte einen verträumten Kanal, gesäumt von Häuserzeilen in warmen Erdfarben. Schattige Arkaden, Säulengänge und Straßencafés verbreiteten den Zauber italienischer Gelassenheit. Raumhohe Rundbogenfenster und Balkone mit Geländern aus filigranem Eisengitter zierten Prachtbauten, die sich nicht vor den Palazzi am Canal Grande zu verstecken brauchten.

      »Venise provençale nennen es die Franzosen«, dozierte Jamie.

      »Klingt einleuchtend.«

      Port Grimaud hatte auf den letzten paar Metern deutlich an Sympathie gewonnen. Das Haus von Richters Golfbekanntschaft Stresemann lag an der Südspitze einer kleinen Insel. Jamie parkte den Mietwagen neben einer metallisch silbernen E-Klasse Limousine im Schatten der Pinie auf dem Vorplatz. Kaum hatte sie die Tür aufgestoßen, trat ein sportlich gekleideter Herr mit grauem Kurzhaarschnitt und überlangen Beinen freudestrahlend auf sie zu und begrüßte sie auf Deutsch mit unverkennbar sächsischem Akzent:

      »Sie müssen Dr. Hegel und Ihr Verlobter sein. Willkommen in Port Grimaud.«

      Er stellte sich als Jochen Preuss vor, Wahlfranzose und Heimweh-Ossi.

      »Ich wohne mit meiner Frau Manon im Nachbarhaus. Wir haben ein Auge aufs Haus der Stresemanns, wenn sie nicht da sind, was eigentlich immer der Fall ist.«

      Er hielt ihr einen Schlüsselbund hin.

      »Ihr Akzent kommt mir bekannt vor«, lächelte er. »Berlin?«

      Bevor sie antworten konnte, schlug er sich an die Stirn und wandte sich auf Englisch an Jamie:

      »Entschuldigen Sie, Dr. Roberts, wie ungeschickt von mir. Sie sind Engländer, nicht wahr?«

      Jamies Gesicht war ein einziges Fragezeichen, als er nickte und antwortete:

      »Wie Sie richtig vermuten, Mr. Preuss, bereitet mir Ihr ausgezeichnetes Englisch entschieden weniger Mühe als Ihr Deutsch.«

      »Also bleiben wir beim Englisch.« Zu ihr gewandt, fügte er lachend hinzu: »Sie sollten Dr. Roberts unbedingt Ihre schöne ostdeutsche Sprache beibringen. Schließlich ist er Angelsachse.«

      »Das versucht meine Mutter schon seit langer Zeit, ohne nennenswerten Erfolg.«

      An der Haustür verabschiedete er sich mit der Bemerkung, die in ihren Ohren fast wie eine Drohung klang:

      »Sie sind selbstverständlich zum Kaffee eingeladen. Lernen wir uns besser kennen. Kommen Sie einfach rüber, wenn Sie soweit sind.«

      Etwas

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