Vollzug. Hansjörg Anderegg

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Vollzug - Hansjörg Anderegg

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Erschrocken fuhr sie auf.

      »Wenn er nun nicht mehr anspringt?«

      »Gute Frage«, murmelte er betroffen.

      Beim zweiten Versuch lief die Maschine wieder. Jamie wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und drehte den Benzinhahn wieder zu.

      »Kein Problem, wie du siehst.«

      Von der Vergangenheit auf die Zukunft eines Motors zu schließen, der an Depressionen litt, war verwegen, doch sie schwieg. Der sanfte Wellenschlag und hin und wieder der Schrei einer Möwe unterstrichen die Stille inmitten der Bucht. Lange Zeit lagen sie in Gedanken versunken nebeneinander, jeder in seiner eigenen Traumwelt, weitab vom Alltag.

      »Wovon Sven jetzt wohl träumt«, fragte sie unvermittelt. »Träumt man im Koma?«

      »Medikamente wie Pentobarbital oder Thiobarbital reduzieren die Hirnaktivität drastisch, aber das Organ arbeitet weiter. Das wird laufend mit dem EEG kontrolliert. Viele Patienten behaupten nach dem Aufwachen, sie hätten geträumt, was durchaus möglich ist.«

      »Da spricht der vorsichtige Mediziner«, lachte sie.

      Es war kein befreites Lachen. Beim Gedanken an ihren Partner auf der Intensivstation erschien ihr das Blau des Wassers mit einem Mal eine Spur dunkler und bedrohlicher. Jamie spürte es. Er nahm sie in die Arme und hielt sie fest.

      »Bald hat er es überstanden«, flüsterte er ihr ins Ohr.

      Eng an seinen Körper geschmiegt, wurde ihr die Hoffnung allmählich zur Gewissheit. Alles würde sich doch noch zum Guten wenden. Ahmed Moussouni würde auspacken, sein Bruder Hassan gefasst werden und Sven wäre wieder ihr alter Partner, als hätte Hamburg nie stattgefunden. In Jamies Armen gab es nur den optimistischen Blick in die Zukunft. Im Augenblick stimmte einfach alles. Als er den Griff lockerte, zog sie ihn fester an sich und sagte leise:

      »Ist gut so.«

      Das Boot schaukelte sanft auf den Wellen. Eine Schönwetterwolke schob sich vor die Sonne und sorgte für willkommene Abkühlung. Sie brauchten nicht zu reden, um ihr Glück zu genießen. Sie kommunizierten auf andere Weise und verstanden sich auch so. Sie gehörten zusammen, zwei Wesen in perfekter Symbiose. Fast perfekt jedenfalls. So gut es eben ging in dieser Welt mit tausend Unbekannten. Sie sah ihm ins Gesicht und hätte schwören mögen, ihm schwirrten die gleichen Gedanken durch den Kopf.

      Er räusperte sich. »Chris?«

      »Hmm?«

      »Willst du meine Frau werden?«

      Der Schock katapultierte sie aus seiner Umarmung. Ein Fuß stieß an die Bootswand. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel rücklings mit Strandkleid und Sonnenhut ins Wasser, bevor Jamie seine Hand ausstrecken konnte. Mit einem Schreckensruf sprang er ihr nach. Sie strampelten im Wasser, eng umschlungen wie zwei Kröten im Frühling, bis sie am Boot Halt fand.

      »Entschuldige«, keuchte er. »Das war dumm von mir, dich so zu überfallen. Eine altmodisch romantische Vorstellung – ich meine – wir sind doch sowieso zusammen – was würde sich überhaupt ändern …«

      Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen, dann kletterte sie ins Boot, schwerelos wie die Möwe in der lauen Brise. Er blieb wie ein Stoßdämpfer an der Hülle hängen, warf ihr dabei so leidende Blicke zu, als übte er genau diese Funktion aus. Ihr Herz pumpte heißes Blut durch die Adern, dass sie glaubte, es rauschen zu hören wie das Meer. Sie verschloss ihm den Mund mit einem langen, innigen Kuss, bevor sie ihm die einzig mögliche Antwort ins Ohr hauchte:

      »Oui!«

      Sie spürte, wie seine Anspannung nachließ. Ein verlegenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

      »Das …«, begann er, stockte und schluckte leer.

      Sie nickte lachend. »Das ist Französisch und heißt ›ja‹!«

      »Das ist wunderbar, wollte ich sagen. Ich kann es gar nicht fassen. Chris, Liebste …«

      Tausend Gedanken stürzten auf sie ein, während sie sich in stillem Glück umarmten, als dürfte sie nie mehr etwas trennen. Er schien vergessen zu haben, dass er immer noch mitsamt den Kleidern im Wasser hing.

      »Willst du nicht reinkommen? «, fragte sie nach einer Ewigkeit.

      Sie half ihm ins Boot. Beide streiften die nassen Kleider vom Leib und legten sie zum Trocknen aus. Er stand nackt vor ihr und stieß einen tiefen Seufzer aus, als wäre die Last seines Junggesellenlebens von ihm abgefallen.

      »Mein Gott, Chris! Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Scheiß Angst ich vor deiner Antwort gehabt habe.«

      Sie zog ihn an ihren Busen, damit er die wässrigen Augen nicht sehen konnte. Als Realistin hing sie längst nicht mehr an der romantisch verklärten Vorstellung des Teenagers von Traumhochzeit und ewigem Glück. Insgeheim aber hatte sie jahrelang auf seine fünf Worte gewartet.

      »Wärst du ins Wasser gegangen, wenn ich Nein gesagt hätte?«, fragte sie nach einer Weile.

      »Augenblicklich!«

      »Aber du kannst schwimmen …«

      »Nicht nach deinem Nein.«

      Seine feuchte, warme Haut regte ihre Hormonproduktion an. Die Wirkung der Körpersäfte spürte sie deutlich in ihrem Schoß.

      »Kannst du das nochmals machen wie neulich …«, flüsterte sie.

      Das Salz auf ihrer Haut trieb ihn zu neuen Entdeckungsreisen an. Die beiden Körper verschmolzen zu einem Knäuel aus purer Leidenschaft. Die Sorge um ihren Partner, der Job, die Brüder Moussouni, der unheimliche Mohammed Hamidi in Marseille, alles rückte in weite Ferne. Jetzt musste die Zeit einfach stehen bleiben.

      Sie hatte keine Vorstellung davon, wie lang sie schon auf den nassen Kleidern zuckten wie Fische, die das Wasser suchen, als lautes Gelächter sie plötzlich in die Gegenwart zurückholte. Sie stoben auseinander, schossen auf und starrten mit roten Köpfen in die grinsenden Gesichter von Jugendlichen, die in kleinen Jollen einen Kreis um sie bildeten. Anzügliche Rufe wurden laut, deren Sinn auch Jamie ohne Französischkenntnisse sofort verstand. Ihr erster Reflex war, die Blöße zu bedecken, dann verzichtete sie darauf. Die Bande hatte sowieso schon alles gesehen. Jamie spielte nach dem ersten Schreck den coolen Engländer. Er winkte den Seglern mit seiner schwarzen Unterhose zu und rief:

      »Sie hat Ja gesagt! Oui!«

      Antibes, Côte d‘Azur

      »Sie ahnen nicht, worauf Sie sich einlassen«, warnte Chris Jochen und Manon Preuss am Eingang zur Markthalle von Antibes.

      Jamie war bereits untergetaucht. Mit einem flüchtigen »Excuse me« hatte er sich unters Volk gemischt, das wie in einer Prozession an den Marktständen vorbeizog, vor den Auslagen mit Früchten, Gemüse, Gewürzen, Wurst und Bergen aus Käse stehen blieb, lebhaft über das Angebot diskutierte und die Einkaufstaschen füllte.

      »Wahrscheinlich hat er den Grund, weshalb wir hier sind, schon vergessen«, fügte sie hinzu, während sie über Knoblauch staunte mit Zehen größer als ihre.

      »Danken Sie Gott, dass ihr zukünftiger Ehemann nur das harmlose Kochen als

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