Vollzug. Hansjörg Anderegg

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Vollzug - Hansjörg Anderegg страница 17

Автор:
Жанр:
Серия:
Издательство:
Vollzug - Hansjörg Anderegg

Скачать книгу

reagierte lange nicht, als hätte sie ihn nicht wahrgenommen. Er suchte wie besessen in der Wohnung nach der kleinen Marie, bis Johanna ihn schließlich mit dem Satz stoppte, der immer noch in ihm nachhallte:

      »Marie ist tot.«

      Nach und nach erfuhr er, was geschehen war. Die Ärzte im Spital hatten von Komplikationen gesprochen. Johanna wurde in Vollnarkose gelegt, Marie mit Kaiserschnitt zur Welt gebracht. Nach dem Aufwachen erfuhr seine Frau von der Totgeburt. Sie hatte ein totes Mädchen geboren. Ihr Kind durfte sie nie sehen. Es gab keinen Abschied, kein Begräbnis. Marie erhielt nicht einmal einen offiziellen Namen. Ihre Tochter hatte nie existiert. Für sie beide aber blieb die kleine Marie allgegenwärtig. Johanna zog sich immer mehr in die Fantasiewelt einer glücklichen Familie zurück, bis sie nach aussichtslosem Kampf an der unerträglichen Wirklichkeit zerbrach. Marie wäre jetzt eine Frau wie Leonie, gleich alt, mit den gleichen, vornehmen Gesichtszügen, der gleichen, warmen Stimme.

      Jonas Ullrich kehrte mit einem Schlag in die Gegenwart zurück. Ein wahnwitziger Gedanke schwirrte ihm durch den Kopf. Die Vorstellung war absurd, und doch ließ sie ihn nicht mehr los. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr deutete darauf hin, die Frau am Flügel könnte weniger mit den Volkmanns zu tun haben, als sie selbst ahnte. Jedenfalls glich sie weder dem Professor noch Anna Volkmann, die im schneidigen und schneidenden Ton eines Feldwebels sprach. War es möglich, dass Marie vor ihm saß, die Totgeburt nur vorgetäuscht worden war, um regimetreuen Genossen eine Adoption zu ermöglichen? Eine solche Ungeheuerlichkeit war den damaligen Apparatschiks zuzutrauen. Er schüttelte sich unwillkürlich. Der Gedanke verursachte Gänsehaut. Er musste Gewissheit haben. So bizarr ihm das Vorhaben erschien, ihm blieb keine andere Wahl. Er gesellte sich zur Gruppe, die sich nach dem Konzert um die Künstlerin scharte. Wie viele andere, erhob er sein Glas, wollte ihr danken, brachte jedoch kein Wort über die Lippen. Sie stellte ihr Wasserglas ab, um sich mit den Gästen zu unterhalten. Er wartete auf einen günstigen Augenblick, um das Glas mit ihren Speichelresten verschwinden zu lassen.

      Am nächsten Morgen betrat er in aller Frühe das Labor seines alten Bekannten Kuno in der Rostocker Uniklinik. Der erkannte ihn im ersten Augenblick nicht und fragte mürrisch:

      »Wer stört?«

      »Jonas Ullrich, erinnerst du dich?«

      Kuno sprang auf. »Jonas! Mensch! Warum sagst du das nicht gleich? Lange nicht gesehen. Was ist aus dir geworden?«

      Jonas verspürte keine Lust, alte Geschichten auszugraben, und die Antwort auf Kunos Frage kannte er selbst nicht. Nach kurzem, belanglosem Geplänkel kam er zur Sache:

      »Wie schnell kannst du einen Vaterschaftstest durchführen?«

      Kuno stutzte, bevor er grinsend fragte: »Hast du nicht aufgepasst?«

      Er überhörte die Frage, zog das Glas in der Plastiktüte aus der Tasche und sagte:

      »Ich muss so schnell wie möglich wissen, ob die DNA an diesem Glas etwas mit mir zu tun hat.«

      »So schnell geht das nicht, und …«

      »Doch, schneller!«

      Sein Gesicht ließ keinen Zweifel daran, wie ernst ihm die Angelegenheit war. Sein Bekannter schüttelte ungläubig den Kopf.

      »Wie stellst du dir das vor? So etwas kann ich nicht einfach zwischen Tür und Angel erledigen. Ich brauche einen offiziellen Auftrag, und es gibt Vorschriften. Ohne schriftliche Einwilligung der betroffenen Person oder ihres Rechtsvertreters geht gar nichts.«

      »Die Person heißt Marie, und sie ist tot«, sagte Jonas leise.

      Kuno sah ihn verständnislos an. Jonas ließ sich auf den nächsten Sessel fallen und überlegte. Er brauchte diese Analyse. Eine andere Möglichkeit sah er nicht. Nach langer Pause entschloss er sich, etwas zu tun, was er noch nie getan hatte. Er erzählte Kuno Maries Geschichte, wenigstens soviel davon, dass er begreifen musste, wie wichtig sein Anliegen war.

      Wie erwartet, verschlug der ungeheure Verdacht auch seinem Bekannten die Sprache.

      »Was willst du unternehmen, wenn das Resultat positiv ausfällt?«, fragte er schließlich zögernd.

      »Ich weiß es nicht.«

      Wieder starrten beide schweigend vor sich hin. Dann ging Kuno zu einem Schrank, zog ein Glasröhrchen aus einer Schublade und stellte sich vor ihm auf.

      »Mund auf.«

      Mit dem Wattestäbchen aus dem Röhrchen wischte er etwas Speichel aus der Mundhöhle. Er verschloss das Röhrchen mit der Probe, nahm die Plastiktüte mit dem Glas und sagte:

      »Drei Tage. Schneller geht es nicht mit unsern Mitteln. Ich ruf dich an.«

      Der Anruf erreichte Jonas kurz vor Feierabend nach zwei schlaflosen Nächten. Sein Puls schoss an die Decke, als er Kunos Nummer sah. Er zögerte, bevor er auf Empfang drückte, denn er wollte nur eine Antwort hören, und vor der graute ihm. Er meldete sich mit heiserer Stimme:

      »Ja?«

      »Ja«, bestätigte Kuno.

      Das Büro begann sich um ihn zu drehen. Ihm wurde übel, als trudelte er im Sturzflug in ein schwarzes Loch. Kraftlos glitt er zu Boden, blieb an die Tür gelehnt sitzen und rang um Worte.

      »Sie ist deine Tochter Marie«, fügte Kuno hinzu, als hätte er die Botschaft nicht verstanden.

      »Bist – du – sicher?«, gelang ihm endlich zu stammeln.

      »Der Test ist zu 99.999% sicher. Es besteht kein Zweifel: Du bist ihr Vater. Ich schicke dir die Ergebnisse.«

      Jonas murmelte einen Dank und legte auf. Er hatte es plötzlich eilig, nach Hause zu kommen, um Johanna die unfassbare Nachricht zu verkünden.

      Er verließ die Wohnung wieder gegen acht Uhr an diesem lauen Sommerabend. Gegessen hatte er nichts. Er verspürte keinen Hunger, wusste aber jetzt, was zu tun war. Das Foto mit Johannas lächelndem Gesicht in der Tasche, schritt er entschlossen auf die Villa ›Weißer Schwan‹ zu, wo die Volkmanns seit den Zeiten der DDR wohnten. Das Haus des Professors war eines der schönsten Gebäude dieser Gegend im Stil der Bäderarchitektur. Weiß wie ein Schwan bildete es mit seinen großen Rundbogenfenstern, den Pilastern, Dreiecksgiebeln und Türmchen den Mittelpunkt eines weitläufigen Parks, der an die Strandpromenade grenzte.

      Am Tor zur Einfahrt verließ ihn der Mut. Er schlenderte ziellos weiter. Am Strand setzte er sich in den Sand, zog das Bild aus der Tasche und sagte mit bitterem Lächeln zu Johanna:

      »Was für eine bescheuerte Idee!«

      Leonie war eine Volkmann. Ihre Adoptiveltern hatten sie aufgezogen, sie offensichtlich gefördert. Der ›Weiße Schwan‹ war ihr Zuhause. Nichts verband Leonie mit ihm und Johanna, mit Ausnahme der Gene. Leonie war und blieb Leonie Volkmann, nicht Marie Ullrich. Lange saß er grübelnd in der Abenddämmerung. Die Wellen brachen sich mit einschläfernder Regelmäßigkeit auf dem flachen Strand, liefen sich tot wie sein verkorkstes Leben.

      Eine Joggerin näherte sich. Sie nickte ihm freundlich zu, war schon vorbei, als er sie erkannte. Wie elektrisiert sprang er auf.

      »Leonie?«

      Sie blieb abrupt stehen, drehte sich um und machte ein paar Schritte

Скачать книгу