Vollzug. Hansjörg Anderegg
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Endlich übertönten die Sirenen der Einsatzwagen den Krawall um ihn herum. Eine Hundertschaft Polizisten in Kampfmontur, Knüppel in der einen, Schutzschild in der anderen Hand, begann, die Nazis einzukreisen und einen Puffer zum Zug der Muslime zu bilden. Ein paar Kahlköpfe warfen Steine und Flaschen auf die anrückenden Polizisten. Die meisten verließ der Mut nach der ersten Tränengas-Granate. Ullrich staunte, wie rasch sie die Übermacht des Gegners erkannten. Sie kühlten ihre Wut über die verhinderte Schlacht gegen die Muslime an Fensterscheiben und geparkten Fahrzeugen.
»Halt, das ist mein Auto!«, brüllte er den fetten Deppen mit dem Kindergesicht an, als der mit dem Baseballschläger ausholte.
Wortlos rannte der Junge weiter. Die Frontscheibe des nächsten Wagens barst in tausend Teile und verwandelte sich in undurchsichtiges Milchglas. Ein Ausläufer der Tränengaswolke streifte Ullrich. Keuchend und hustend, mit brennenden Augen tastete er nach dem Autoschlüssel und schaffte es wie durch ein Wunder, sich im Wagen in Sicherheit zu bringen, bevor die nächste Granate platzte.
Auf dem Weg zurück ins beschauliche Küstenstädtchen Lubmin gab es im Radio nur ein Thema: die dramatische Entwicklung in Hamburg und aufflammende Unruhen in Leipzig, Dresden und Berlin. Immer wieder fragte er sich, wie es möglich war in einer aufgeklärten Gesellschaft, dass ein einziges tragisches Ereignis eine derart extreme Gewaltwelle auslösen konnte. Als er seine Wohnungstür aufschloss, suchte er immer noch nach der Antwort.
Kapitel 3
Wadi Djedi, Algerien
Der sandfarbene Hummer passierte den Posten am Eingang zur Schlucht, ohne anzuhalten. Islam Bencherif hob kurz die Faust zum Gruß und als Zeichen, die zwei Kalaschnikows in der Grotte über der Wüstenpiste sehr wohl bemerkt zu haben. Ein paar Hundert Meter weiter stoppte er abrupt. Wie auf ein geheimes Zeichen füllte sich die felsige Einöde mit Leben. Ein flüchtiges Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes am Steuer. Sein Camp im Wadi Djedi war hervorragend getarnt, unmöglich aus der Luft zu entdecken, solang sich die Bewohner in den Höhlen beiderseits der Schlucht verbargen. Bärtige Männer umringten das staubige Gefährt. Fäuste flogen in die Luft und Hochrufe begrüßten den Anführer, stets begleitet vom begeisterten »Allahu akbar!« – »Allah ist groß!«.
Islam Bencherif stieg aus und überließ es wie üblich seinem Adjutanten, das Fahrzeug ins Versteck zu fahren und die Spuren zu beseitigen. Er nickte seinen Brüdern nur kurz zu und zog sich mit Sorgenfalten auf der Stirn in seine Höhle zurück. Die Unterredung mit dem Emir war nicht nach seinem Wunsch verlaufen, ganz und gar nicht. Mehr denn je war er überzeugt vom nahen Ende der Herrschaft des Weisen, wie die Anhänger den Emir ehrfürchtig nannten. Der alte Mann zeigte zu viele Schwächen. Unfähig, die immer zahlreicheren Splittergruppen der AQIM, der gefürchteten al-Qaida des Islamischen Maghreb, zusammenzuschweißen, ruhte er sich auf seinen Lorbeeren aus, sonnte sich in den Lobpreisungen der einfachen Kämpfer und lebte nur noch in der Vergangenheit. Es war Zeit für eine Erneuerung, drohte der Heilige Krieg doch buchstäblich im Sande zu verlaufen. Dafür hatten er und die Zehntausende ehemaliger Freiheitskämpfer des FLN und des GIA nicht die unzähligen Opfer gebracht. Dafür lebten sie nicht das harte Leben der Guerilla. Der Feind war näher denn je. Die algerische Armee bereitete ihm weniger Sorgen als die französischen Truppen und die Blauhelme im benachbarten Mali. Die verfluchten Franzosen hatten seine lukrativste Geldquelle praktisch zum Versiegen gebracht. Der ehemals florierende Schmuggel südamerikanischer Drogen durch den Maghreb in den Nahen Osten und nach Europa existierte praktisch nicht mehr. Sie brauchten neue, sichere Routen. Deshalb war die Unterstützung oder mindestens Toleranz und Zurückhaltung der Tuareg des ›Mouvement national pour la libération de l’Azawad (MNLA)‹ so wichtig, doch der Emir lehnte Verhandlungen mit den in seinen Augen säkularen Nationalisten rundweg ab.
Motorenlärm schreckte ihn aus den Gedanken. Er erkannte den Jeep seines Technikers am röhrenden Geräusch. Kurz danach erschien die hagere Gestalt des jungen Fahrid Saadi am Eingang. Er grüßte ihn mit freundlichem Lächeln. Sein Techniker gehörte einer neuen Generation von Dschihadisten an. Wie die alten Kämpfer hatte er sich mit Leib und Seele der Sache der Gläubigen verschrieben, aber im Unterschied zu den meisten seiner Leute verfügte Fahrid über umfangreiche technische Kenntnisse und kämpfte vor allem mit seinem scharfen Verstand. Ohne jemanden wie Fahrid wäre sein großer Plan nicht umzusetzen.
»As-salamu alaikum«, grüßte der Techniker. »Das Paket ist auf dem Weg zum Hafen.«
»Gut, Fahrid. Ich habe nichts anderes erwartet. Die Brüder sind instruiert, wie wir besprochen haben?«
Fahrid nickte. »Sie sind bereit.«
Er wandte sich zum Gehen.
Islam Bencherif hielt ihn zurück. Er reichte ihm ein Papier mit der Bemerkung:
»Der Text für die Botschaft.«
Er geleitete Fahrid bis vor die Höhle, eine Ehre, die er nur wenigen Freunden zuteil werden ließ. Sein Blick wanderte vom jungen Hoffnungsträger zum Felsvorsprung gegenüber. Zwei Knaben, keiner älter als zehn, traten mit hängenden Köpfen auf die Behausung des greisen Mohammed Mokdad zu, den alle ehrfürchtig Abu Jihad nannten, Vater des Heiligen Krieges. Der Geistliche verkörperte den heiligen Eifer der Gerechten im Kampf gegen die Ungläubigen wie kein Zweiter. Für ihre Sache war er ebenso unverzichtbar wie sein Techniker. Daher genoss er seit jeher eine Art diplomatische Immunität. Islam Bencherif hasste ihn dafür, denn der Alte schreckte vor keiner Schandtat zurück, um seine grenzenlose Lust zu befriedigen. Die Koranschule für die Kleinen im Camp war nur die harmlose Fassade für das, was sich in Abu Jihads Höhle tagtäglich abspielte. Jeder wusste es. Im Camp gab es keinen Knaben, der nicht schon den Samen des Schänders geschmeckt, dem der Alte nicht schon das Glied in den Hintern gerammt hatte. Jeder musste wegsehen, auch er selbst, denn Abu Jihad verkörperte den Heiligen Krieg. Er war die Flamme Allahs auf Erden, das charismatische Symbol für nichts weniger als den Sinn ihrer Existenz. Abu Jihad war unantastbar. Von ihm geschändet zu werden, musste man als Ehre betrachten.
Islam Bencherif spuckte angewidert auf den Boden. Ungeduldig wartete er, bis die beiden Jungen die Höhle wieder verließen, dann machte er sich auf den Weg, um mit Abu Jihad die Predigt vorzubereiten.
Die Mittagssonne brannte wie Feuer und verwandelte die Schlucht in einen glühenden Ofen, als Abu Jihad zu seiner Predigt vor dem Freitagsgebet ansetzte. Bei Weitem nicht alle Männer des Camps fanden in der großen Grotte Schutz, die als Moschee diente. Vielen jungen Kämpfern und den Knaben blieb nichts anderes übrig, als in der prallen Sonne zuzuhören. Das Freitagsgebet war die einzige Versammlung unter freiem Himmel, die Islam Bencherif erlaubte. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war stets gegenwärtig. Er durfte sie nicht unterschätzen. Er warf einen letzten argwöhnischen Blick in den wolkenlosen Himmel, bevor er die Grotte betrat. Sein Techniker setzte die Videokamera in Betrieb und gab dem alten Mann ein Zeichen. Es war ein eindrucksvolles Bild, das bald um die Welt gehen würde. Abu Jihad stand vor der riesigen Weltkugel, auf der die Kalaschnikow mit der schwarzen Flagge der AQIM als Symbol des Heiligen Krieges thronte. Er hob den Blick zur Felsenkuppel, streckte dabei den weißen Vollbart wie eine schützende Hand seinen Zuhörern entgegen und begann mit dem Ruf:
»Allahu akbar!«
»Allahu akbar!«, antworteten die Zuhörer wie aus einem Mund.
»Brüder«, fuhr