Der zweite Killer. Hansjörg Anderegg

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Der zweite Killer - Hansjörg Anderegg

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Herz aber hatte sie im Dachgeschoss verloren. Es war ein Saal mit riesigem ovalem Oberlicht. Atelier, Labor und Musikzimmer gleichermaßen oder einfach ein Ort zum Träumen. Sie brauchte sich nur auf den Boden zu legen und befand sich im Himmel. Dieses Zimmer allein machte den Umzug aus Kreuzberg unumgänglich.

      Ein lauter Ruf riss sie jäh aus ihrem Tagtraum. Nach wenigen Sätzen stand sie im Westflügel. Jamie kehrte ihr den Rücken zu. In tiefe Kontemplation versunken, ließ er seinen Blick durch die Halle von der Größe ihrer Berliner Wohnung schweifen.

      »Good Lord, hast du schon so eine Küche gesehen?«

      »Nein«, gab sie zu.

      Er wagte kaum laut zu sprechen, so sehr ergriffen ihn Atmosphäre und Großzügigkeit dieses kulinarischen Tempels. Kein Zweifel: Diese Küche war sein Dachgeschoss, und er war ihr mit Haut und Haar verfallen. Andächtig strich er mit der flachen Hand über das alte Holz des Tisches, an dem zwanzig Leute bequem Platz fanden.

      »Wir könnten Gäste einladen, Schaukochen veranstalten, einen Dinner Club für Musikfreunde gründen. Vielleicht einmal im Monat, was meinst du?«

      Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie betrachtete sich nicht als Misanthrop, aber jeden Monat Parties mit zehn oder zwanzig Gästen? Ein Dutzend Einwände lagen ihr auf der Zunge, bis sie sich daran erinnerte, dass sie beide sowieso keine Zeit für solche Späße übrig hatten. Sie schenkte ihm daher ein süßes Lächeln und fragte nur:

      »Dann ziehen wir also ein?«

      »Keine Frage.«

      »Eines musst du mir allerdings versprechen«, fügte sie mit ernster Miene hinzu. »Ich beharre auf dem Vetorecht bei der Gästeliste.«

      »Selbstverständlich, ich auch.«

      Ihr Telefon summte, eine unterdrückte Nummer.

      »Ja bitte?«

      »Dr. Christiane Roberts?«

      »Am Apparat.«

      »Tag Frau Kommissarin. Ich bin Staatsanwältin Klara Winter, SO, Treptow. Wir sind für Montag verabredet.«

      »So steht‘s in meinem Kalender«, antwortete Chris kühl.

      Sie kannte die Chefin am neuen Arbeitsplatz am Treptower Park noch nicht, wusste jedoch genau, worauf dies hinauslief. Arbeitsbeginn Montag 8:00 Uhr, hieß es in der Vereinbarung. Auch ein Witz.

      »Wir haben ein Problem«, begann die Staatsanwältin wie erwartet. »Leichenfund am alten Asylheim, und uns sind zwei Leute für längere Zeit ausgefallen.«

      »Ist das nicht ein Fall fürs LKA?«

      »Das Opfer ist Staatsbürger der USA, Ex-Soldat der US-Navy, um genau zu sein.«

      Die Staatsanwältin schwieg, als reichte diese Erklärung.

      »Und?«

      »Haben Sie mich nicht verstanden?«, platzte die Staatsanwältin heraus. »Ein Soldat der US-Navy ist in Berlin erschossen worden!«

      »Sagten Sie nicht Ex-Soldat?«

      »Soldat, Ex-Soldat, was spielt das für eine Rolle? Der Fall braucht äußerstes Fingerspitzengefühl, gerade jetzt, wo die Beziehungen zu den USA nicht die besten sind, wie Sie wohl wissen. Nein, das ist kein Fall für das LKA. Die wären heillos überfordert. Wir müssen auf Bundesebene ermitteln. Um es kurz zu machen: Sie übernehmen den Fall. Nehmen Sie umgehend Kontakt auf mit Hauptkommissar …«

      »Augenblick«, unterbrach Chris. »Ich habe mich auf Montag eingestellt. Zurzeit bin ich nicht in Berlin.«

      Die Bemerkung dämpfte den Eifer der Staatsanwältin nur für eine Sekunde. »Wann können Sie beim LKA sein?«

      Chris unternahm einen letzten Versuch: »Ich bin nicht gerade berühmt für mein diplomatisches Fingerspitzengefühl, wie Sie sicher aus meiner Akte entnommen haben.«

      »Damit müssen wir leben. Also wann?«

      »Vielleicht schaffe ich es heute noch«, brummte sie mit einem wehmütigen Blick auf Jamie, der in der Küche hantierte, als erwarte er die Gäste in einer Stunde.

      »Hauptkommissar Mertens heißt der Kontakt«, sagte die Staatsanwältin und legte auf.

      Die Stimme jagte Chris kalte Schauer über den Rücken. Willkommen beim BKA Berlin. Jamie maß den zweiten Einbauschrank aus. Er hatte nichts vom Gespräch mitbekommen.

      »Tut mir leid, mein Schatz. Ich muss dringend nach Berlin und brauche den Wagen.«

      Er war noch nicht zufrieden mit der Planung seiner Laborküche, schüttelte den Kopf und murmelte undeutlich, ohne sie anzusehen. Sie warf ihm einen Handkuss zu und eilte hinaus.

      Sie befand sich schon am Stadtring, als er anrief.

      »Das Auto ist weg. Wo bist du?«

      Seine Stimme klang verzweifelt.

      »Ich musste dringend nach Berlin, hab ich dir doch erklärt.«

      »Aber – wie komme ich jetzt hier weg?«

      Bei der Vorstellung seines betroffenen Gesichtsausdrucks verspürte sie große Lust, ihn noch einmal zu heiraten.

      »Ruf ein Taxi, du Ärmster. Ich muss Schluss machen, bis später.«

      Berlin

      Im Schritttempo näherte sich Chris dem Tatort. Das Sträßchen hinter dem Asylheim war ein Rad- und Wanderweg, besonders beliebt am Freitagnachmittag, wie ihr zahlreiche Mittelfinger bestätigten. Das LKA hatte den Tatort freigegeben, nachdem Spuren und Beweisstücke gesichert worden waren. Trotzdem bestand sie darauf, Hauptkommissar Mertens hier zu treffen. Berichte und Fotos in den Akten ersetzten keine Tatortbegehung.

      Die ersten Tropfen fielen, als sie aussteigen wollte. Kaum war die Tür offen, begann es kräftig zu regnen. Es sah nicht nach einem kurzen Platzregen aus. Sie hievte den gelben Koffer vom Rücksitz nach vorn. Er enthielt das wichtigste Zubehör für kriminaltechnische Untersuchungen und begleitete sie seit dem ersten Tag an der Front. Mühsam zwängte sie sich in den weißen Einwegoverall. Ein junger Mann empfing sie, Erstsemester an der Uni und Mobbingopfer, nach dem blassen Gesicht zu urteilen. Sein Schirm reichte für vier seinesgleichen. Sie musste Staatsanwältin Winter recht geben: Das LKA war heillos überfordert, wenn es Schüler wie den als Kommissare beschäftigte.

      »Sie haben sich reichlich Zeit gelassen«, knurrte eine Stimme hinter dem Studenten.

      Sie atmete auf, denn der Mittfünfziger, der jetzt auf sie zutrat, hatte den Stimmbruch schon hinter sich.

      »Chris Roberts, BKA«, stellte sie sich vor. »Sie sind HK Mertens, nehme ich an?«

      Die ausgestreckte Hand griff ins Leere. Statt sie zu grüßen, schüttelte er das Wasser vom Schlapphut und brummte weiter:

      »Ich verstehe nicht, was das hier soll. Steht doch alles im Bericht.«

      Bevor sie den Mund öffnete, schaltete sich das Erstsemester ein:

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