Staatsfeinde. Hansjörg Anderegg
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»Frage mich, was du willst. Du kriegst auf alles eine ehrliche Antwort.«
Obwohl technisch unmöglich, wurden ihre Augen noch größer. Dahinter arbeitete es heftig, stellte er beruhigt fest.
»Also gut«, sagte sie nach einer Weile entschlossen, »erste Frage: Stehst du auf mich?«
Beide erröteten wie Teenager, die solche Fragen niemals direkt, sondern höchstens übers Handy stellen würden. Er zögerte etwas zu lange. Sie erholte sich schneller vom Schock der eigenen Frage.
»Kriege ich jetzt eine Antwort?«
Er räusperte sich umständlich, besann sich dann aufs Experiment, das ihm unterwegs eingefallen war.
»Lass uns solche Fragen im Chat besprechen. Ich denke, wir fühlen uns dann beide – freier, zu sagen, was wir denken.«
Wenig später saß er wieder in der Gebärmutter am Terminal, das Chat-Fenster vor sich. Lenis Text erschien zwar auf dem Bildschirm, wurde aber direkt an sein künstliches Alter Ego weitergeleitet. Umgekehrt empfing sie nicht seine Antworten, sondern die des neuronalen Netzes. Es war eine primitive Form des Turing-Tests, den sie ahnungslos durchführte. Dass er dabei erfuhr, was sie in Bezug auf seine Person bewegte, empfand er eher als Belastung denn als Bonus. Ihre erste Frage vorhin schmerzte jedenfalls schon fast wie eine Berührung. Der Test dürfte nicht lange dauern, sagte er sich, falls es so weiterginge. Sie würde den Schwindel bald durchschauen.
Beides traf nicht zu. Der Chat zwischen Leni und der Maschine entwickelte sich zu einem spannenden Dialog, der sie offenbar reizte, immer neue Fragen zu seiner Person, den Vorlieben, Lebensumständen, schlimmen Ereignissen und Gott weiß was zu erfinden. Das künstliche Gehirn wusste auf alles eine einleuchtende Antwort. Wo es keine gab, wich der Computer mit Ausreden aus, die durchaus humorvoll daherkamen. Sicher, die Art von Antworten kannte man schon seit geraumer Zeit von elektronischen Assistenten wie Apples Siri, aber die Qualität dieses Dialogs war doch eine ganz andere.
Er ließ den Chat weiterlaufen und kehrte auf leisen Sohlen zu Leni zurück. Minutenlang beobachtete er durch die offene Tür, wie sie gebannt am Computer diskutierte, ohne ihn zu bemerken. Schon beglückwünschte er sich zum gelungenen Experiment, als sie erschrocken aufsprang. Blass im Gesicht, starrte sie ihn an, als wäre er sein eigenes Gespenst. Schlagartig erkannte er den Fehler, der ihm bei seinem genialen Einfall unterlaufen war. Er hatte keine Sekunde daran gedacht, wie das Experiment enden sollte, ohne sie zu verletzen. Deshalb fehlten ihm jetzt die passenden Worte.
»Wie lange stehst du schon da?«, fragte sie mit kaum verhaltenem Ärger in der Stimme.
»Fünf Minuten?«, antwortete er unsicher.
»Fünf Minuten, was du nicht sagst.« Sie deutete auf den Laptop. »Und mit wem bitte chatte ich die ganze Zeit?«
Dabei schnitt sie eine Grimasse, als würde sie ihren Computer nie wieder anfassen.
»Mit mir – das heißt, mit dem Algorithmus, den ich entwickelt habe – eigentlich mit dem neuronalen Netz, das der Algorithmus mit meinen Daten …«
»Moment!«, unterbrach sie. »Willst du mich verarschen?«
»Nein, natürlich nicht. Das war ein ernsthafter Test. Alle Antworten, die du gekriegt hast, stimmen hundertprozentig, als hätte ich sie selbst gegeben.«
Ihre Wut war nicht zu übersehen, aber sie beherrschte sich, versuchte rational zu reagieren, wie er es in ihrer Lage tun würde.
»Die Antworten waren also korrekt? Das wollen wir doch gleich mal überprüfen«, sagte sie und setzte sich wieder an den Computer.
»Wie schätzt du deine Sozialkompetenz ein?«, tippte sie ins Chat-Fenster.
»Mangelhaft«, antwortete der digitale Phil ohne Zögern.
Sie drehte sich zu ihm um. »Stimmt, Sozialkompetenz mangelhaft. Jetzt hast du es schriftlich.«
Ihre Mundwinkel zuckten. Bald würde sie lächeln, wusste er aus Erfahrung. Er verzichtete daher darauf, ihr zu erklären, woher das neuronale Netz seine Sozialkompetenz kannte. Der digitale Phil hatte ganz einfach die Zensuren aus dem letzten Jahr am Einhard-Gymnasium gelesen.
»Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen.«
»Hast du aber«, murmelte sie trotzig.
Wie sollte er ihr die Bedeutung des Experiments erklären? Wie könnte je ein Laie verstehen, was hier vor sich ging, wenn sogar eine ausgewiesene Fachkraft wie Leni ihre liebe Not damit hatte?
»Was würde wohl Hermann zu deinem Verhalten sagen?«, fragte sie nach einer peinlichen Pause.
Jetzt konnte er das Lächeln auf ihrem Gesicht wenigstens erahnen. Sie schien sich allmählich zu entspannen.
»Ich soll dich von ihm grüßen, habe ich vergessen, sorry.«
»Ihr redet über mich? Krass.«
Beide grinsten. »Hermann scheint sich halt für dich zu interessieren.«
»Ich will ja gar nicht wissen, wie deine kranken Algorithmen wirklich funktionieren, Phil«, gab sie kopfschüttelnd zurück. »Der Papagei ist wohl nur so etwas wie die Vorstufe für das, was auf unserem Rechner gerade abgeht, oder brauchst du ihn als Ersatz für den Therapeuten?«
Er lachte, sie nicht. Die letzte Frage war durchaus ernst gemeint. Vielleicht brauchte er tatsächlich einen Therapeuten, um sich besser in der analogen Welt unter echten Menschen wie Leni zurechtzufinden. Schwamm drüber. Es gab Wichtigeres zu tun.
»Erkläre es mir«, hakte sie nach.
Er versuchte es. Dabei konzentrierte er sich darauf, die Bedeutung des digitalen Phil für PR-Kampagnen wie die der Autolobby hervorzuheben. Er sah darin nur eine bescheidene, primitive Anwendung des ersten wirklich intelligenten Bots. Die Vorstellung einer künstlichen Intelligenz, die gleichzeitig Tausende, ja Hunderttausende kritischer Kunden oder Wähler durch geschickt geführte Diskussionen von einer Sache überzeugt, leuchtete ihr sofort ein. Ihre Frage am Ende der Lektion bewies es.
»Wir können jetzt also deinem Alter Ego einfach die Zielvorgaben der Automobilindustrie und ein paar Randbedingungen nennen, und schon wird es der Netzgemeinde die Abneigung gegen den Freihandel mit China austreiben?«
Die Formulierung reizte ihn wieder zum Lachen. »Im Prinzip liegst du richtig, aber so einfach geht es natürlich nicht. Vor allem muss das neuronale Netz erst mit den richtigen Daten gefüttert werden. Zudem ist die Eingabe der Zielfunktion und der Randbedingungen vorerst noch ein Knochenjob für Insider mit sehr guten Programmierkenntnissen. Vor allem aber müssen jetzt intensive und zeitaufwendige Tests durchgeführt werden. «
»Wir erwähnen also nichts davon an der Sitzung morgen?«
Die Vorstellung erschreckte ihn. »Wo denkst du hin! Wir reden hier von Forschung, noch lange nicht von praktischen Anwendungen. Nein, kein Wort zu Stein oder Greta!«
»Ist ja gut«, wehrte sie ab. »Ich habe verstanden. Jetzt müsste sich aber meine natürliche Intelligenz wieder aufs Projekt von der Lippe konzentrieren.«
Er nickte und wandte sich ab. Sie betrachtete nachdenklich das Chat-Fenster und murmelte: