Mord oder Absicht?. Lothar Schöne
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Читать онлайн книгу Mord oder Absicht? - Lothar Schöne страница 13
Niebergall legte den Kopf leicht nach hinten: „Da liegt er eigentlich richtig. Bloß keinen Alkohol.“
Hillberger streckte den Kopf vor: „Du wirst mir doch jetzt nicht mit deiner Familiengeschichte kommen?“
Dr. Niebergall nahm mit der Gabel den Rest seiner Schwarzwälder Torte und führte ihn zum Mund, um ihn sich genüsslich auf der Zunge zergehen zu lassen. Dann sagte er: „Die Familiengeschichte ist immer sehr wichtig, ich weiß, wovon ich rede. Sie verfolgt uns bis ins fünfte Glied.“
Wolfgang Hillberger konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen: „Bis ins Glied, noch dazu ins fünfte?“
Niebergall verstand die Ironie in seinen Worten: „Ich spreche als Psychiater, lieber Wolfgang. Psychiater wissen über diese Dinge mehr als Schulmeister.“
„Aber natürlich, mein lieber Ernst, und ich weiß ja auch, dass du familiär … wie soll ich sagen …“
„Du kannst es ruhig aussprechen“, nahm ihm Niebergall das Wort, „ich bin vorbelastet.“
„Und diese Vorbelastung gereicht dir zur Ehre“, erwiderte Hillberger und griff zu seiner Tasse.
„Ich heiße aus gutem Grund Ernst Niebergall, mein Vorfahr, auf den du anspielst, dagegen Ernst Elias Niebergall. Der zweite Vorname ist mir erspart geblieben. Elias war ein Trinker vor dem Herrn und mit Sicherheit auch ein Schnorrer.“
„Mag sein, Ernst. Aber du vergisst das Wichtigste. Er war ein Dichter. Er hat den Datterich geschrieben! Ein Schauspiel, das ich zu meiner aktiven Zeit in der Schule mit Vorliebe durchgenommen habe.“
„Was gibt es am Datterich durchzunehmen?“
„Ich bitte dich!“, entgegnete Hillberger, es ist ein wunderbares Theaterstück, das immer wieder ansehenswert ist.“
„Es ist ein Stück, das einen Trinker und Schnorrer darstellt. Soll das für Schüler vorbildhaft sein?“
„Mein lieber Ernst“, sagte Hillberger, „du siehst das zu eng. Wenn wir literarische Werke nur unter dem Gesichtspunkt beurteilen, welche Figuren im Mittelpunkt stehen und welche Schwächen …“
„Nenn’ mir andere Gesichtspunkte!“, rief Niebergall aus.
„Na ja, man könnte zum Beispiel fragen, wie der Datterich in diese Situation gekommen ist …“
Wieder unterbrach Dr. Niebergall seinen Freund: „In diese Situation? Durch eigenes Verschulden natürlich.“
Hillberger blieb gelassen: „Der Datterich ist unter die Spießbürger in Darmstadt verschlagen worden, wo er doch die Freiheit und das ungebundene Leben liebt. Der Wein ist ihm nicht nur Trost in dieser Umgebung, er ist ihm Heimat.“
„So also kann man seinen Alkoholismus rechtfertigen“, stellte der Psychiater sarkastisch fest.
„Ich will dich überhaupt nicht überzeugen, Ernst, aber wenn wir die Kunst unter dem Fallbeil der Moral beurteilen – da müssen wir uns von vielen großen Werken verabschieden.“
„Ja, soll denn die Kunst ohne Moral daherkommen?“, fragte der Ururur-Enkel des Datterich-Erfinders.
„Die Kunst soll nicht moralisieren“, erwiderte Wolfgang Hillberger, „das überlassen wir den Pfaffen. Die Kunst soll darstellen, was ist, und die Genießer dieser Kunst dürfen es beurteilen.“
Niebergall richtete sich in seinem Stuhl auf: „Ist das nicht ein bisschen wenig? Darstellen, was ist.“
„Das ist überhaupt nicht wenig. Warum ist Shakespeare so gut?“
„Das frage ich mich auch“, erwiderte Niebergall.
„Bitte werd’ nicht banal, Ernst. Du gehst schließlich hin und wieder auch mal ins Theater.“ Hillberger machte eine kleine Pause, um dann weiterzusprechen: „Shakespeare ist so gut, weil er nicht moralisiert. Er hat Falstaff und Othello und viele andere Figuren lediglich dargestellt, wie sie sind. Natürlich mit seiner wunderbaren Fantasie. Und Falstaff ist eine Figur, die man zu Beginn höchst unsympathisch findet, doch zum Schluss beinahe ins Herz schließt.“
„Ja, ja“, murmelte Dr. Niebergall widerwillig, „aber mein Vorfahr Elias ist kein Shakespeare.“
„Recht hast du. Der Ernst Elias Niebergall ist kein Shakespeare, aber ein Dichter eigener Art. Er hat den Leuten klargemacht, dass sie reden dürfen, wie man nicht reden soll. Tun sie’s, kommen sie ins Paradies.“
„Also jetzt übertreibst du maßlos“, entgegnete der Psychiater und hob seine Knollennase, „für mich ist mein Vorfahr lediglich ein Mundartdichter.“
„Ja, aber was hat er aus der Mundart herausgekitzelt“, erklärte Hillberger und fuhr in reinstem Darmstädter Dialekt fort: „Soviel mir bekannt is, Herr Niebergall, genieße Sie in de hiesiche Stadt und de umliegende Ortschafte net des best Renomeeh, sondern erfreie sich eines iwwele Rufs.“
Der Angesprochene senkte leicht den Kopf: „Ich ahnte es schon immer, dass du von meiner Tätigkeit und meinem Beruf nicht viel hältst.“
„Falsch, Ernst. Das war ein Zitat aus dem Stück deines Vorfahren, ich habe nur den Namen Datterich gegen deinen ausgetauscht. Der Herr Datterich erfreut sich eines üblen Rufs …“
„Das galt für seinen Autor wohl ebenfalls“, warf Dr. Niebergall ein.
„Ernst, hast du denn gar kein Sprachgefühl? Ist es nicht köstlich, dass sich jemand eines üblen Rufs erfreuen darf?“
Der Nachfahr des Darmstädter Autors schien nicht überzeugt, er sah betrübt auf seinen leeren Kuchenteller, als habe der ihn in dieses Gespräch reingeritten.
„Im Datterich, dem Stück“, fuhr Hillberger fort, „wird auch eine Schmeißfliege zum Schutzengel. Wunderbar, so ein Einfall.“
Dr. Niebergall kratzte von seinem Kuchenteller die letzten Krümel auf, offenbar konnte ihn auch dieser Einfall seines Urahns nicht beeindrucken.
Wolfgang Hillberger warf ihm einen bedauernden Blick zu: „Na, ich sehe, du bist und bleibst ein Psychiater, der allenfalls den Ernst, doch nicht den Witz in der Kunst erkennt.“
„Hältst du mich für beschränkt?“, fuhr Niebergall jetzt auf.
„Dich doch nicht. Aber viele deiner Kollegen sind es mit Sicherheit.“
Einen langen Moment herrschte Schweigen zwischen den beiden so ungleichen Männern, bis Hillberger schließlich sagte: „Weißt du, was man aus dem Datterich-Stück auch lernen kann?“
Dr. Niebergall murrte: „Na was?“
„Dass man sich nicht durch Misserfolge entmutigen lassen darf, dass man seiner Fantasie vertrauen soll und dass man anderen Leuten auf witzige Weise die Meinung sagen kann.“
„Das mach ich doch!“, erwiderte Niebergall, „ich sag’ den Leuten die Meinung, ganz ungeschminkt. Diesen Spyridakis habe ich sogar, wie ich