Irrlichter und Spöckenkieker. Helga Licher
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Читать онлайн книгу Irrlichter und Spöckenkieker - Helga Licher страница 4
»Die Zeit wird es richten«, sagte Meta sich und schloss ihr Enkelkind in ihr Abendgebet ein.
Die ersten Frühlingsstürme waren in diesem Jahr ausgeblieben. Langsam drangen zaghafte Sonnenstrahlen durch die Nebel, die vom Meer kommend über die Insel zogen. Durch das alte Buchenlaub des vergangenen Jahres, das den Waldboden wie ein Teppich bedeckte, lugten bereits die gelben Spitzen der Osterglocken.
Die kleine Stine Klassen hatte ihren ersten Geburtstag gefeiert. In einem hübschen Kleid aus rosafarbenem Batist saß sie bei ihrer Mutter auf dem Schoß und ließ sich den Geburtstagskuchen schmecken. Meta schaute in Gedanken versunken auf Mutter und Tochter und dachte daran, wie sehr Rieke sich in den letzten Jahren verändert hatte.
Aus einem schüchternen, jungen Mädchen war eine erwachsene Frau geworden. Schade, dass sie so gar nichts aus sich macht, überlegte die Bäuerin. Dabei hat sie ein so hübsches Gesicht.
Ihre zierliche Figur versteckte Rieke oft unter viel zu weiten Kleidern und ihre Hände und Füße machten einen eher ungepflegten Eindruck. Rieke erklärte diese Nachlässigkeit stets mit Zeitmangel.
»Hast du eine Ahnung, wie viel Arbeit ein kleines Kind macht?«, sagte sie oft vorwurfsvoll zu ihrer Mutter.
Meta konnte über diesen Einwand nur lachen.
»Ich habe auch ein Kind großgezogen. Hast du das vergessen?«
Als Kind hatte Rieke selten die Gesellschaft anderer Kinder gesucht. Sie liebte es ihre Zeit in der Kirche zu verbringen. Dort nahm sie an den Gottesdiensten teil und ging dem Küster Rickmers zur Hand.
Der Bauer beobachtete die Entwicklung seiner einzigen Tochter mit Unwillen.
»Das Mädchen soll im Haushalt helfen und nicht ständig in die Kirche rennen. Sie wird einmal diesen Hof erben, ich will keine Betschwester zur Tochter.«
Meta beruhigte ihren Mann und dachte daran, wie sehr auch sie jeden Sonntag die Seelenruhe und absolute Stille in der Kirche genoss.
Rieke beendete die Schule mit einem hervorragenden Zeugnis und äußerte den Wunsch, in einem Krankenhaus auf dem Festland zu arbeiten.
Ole Knudtsen jedoch durchkreuzte die Pläne seiner Tochter, und so erlernte Rieke schließlich in der Schneiderei Ennen den Beruf der Weißnäherin.
»Eine Bäuerin muss nähen können, so kannst du viel Geld sparen, nicht wahr Mutter?«, sagte er selbstgefällig.
Rieke tat das, was ihre Eltern von ihr erwarteten. Schneider Ennen war mit dem Mädchen sehr zufrieden, und seine Kunden mochten Riekes besonnenes, natürliches Wesen. Die Jahre vergingen, und es kam der Tag, an dem Laas Klassen in Oldsum auftauchte.
Er kam vom Festland und hatte die Aussicht, bei einem Fuhrunternehmer im Ort eine Anstellung zu bekommen. Laas war ein fülliger, junger Mann mit einem runden, freundlichen Gesicht. Er war von der Knudtsen-Tochter sehr angetan und umwarb sie nach allen Regeln der Kunst. Rieke zierte sich zunächst ein wenig, doch schließlich fand sie Gefallen an dem Burschen vom Festland.
Während dieser Zeit blühte das Mädchen förmlich auf.
Der Bauer registrierte die Veränderung seiner Tochter argwöhnisch und machte der Bäuerin heftige Vorwürfe.
»Du wirst dafür sorgen, dass sie diese Liebschaft beendet«, befahl er und sah Meta böse an. »Rieke wird einen Bauern heiraten, der unseren Hof übernehmen kann und nicht diesen Tagelöhner. Außerdem dulde ich es nicht, dass meine Tochter in diesem aufreizenden Gewand herumläuft!«
Meta kannte ihren Mann nur zu gut. Ein Gespräch mit Rieke war unumgänglich …
Als aber dann Laas eines Tages auf dem Knudtsenhof erschien und um Riekes Hand anhielt, konnte auch Meta die Katastrophe nicht mehr verhindern.
Der Bauer tobte und warf den Bewerber kurzerhand vom Hof.
»Dieser Erbschleicher wird meine Tochter nie heiraten, er soll verschwinden«, schrie er und rannte wutentbrannt aus dem Haus.
Als er Stunden später zurückkam, hatte sich nicht nur seine Laune, sondern auch seine Einstellung dem Klassen-Sohn gegenüber geändert.
In einem vertrauten Gespräch mit dem Schuster Nansen hatte Ole Knudtsen erfahren, dass Laas Klassen, zwar kein Bauernsohn aber durchaus eine »gute Partie« war. Sein Vater war der Inhaber einer großen Spedition auf dem Festland und Laas sein einziger Erbe. Auf Wunsch des Seniors sollte Laas sich in anderen Unternehmen mal den »Wind um die Nase« wehen lassen und Erfahrungen in seinem Beruf sammeln.
In Oldsum wurde Oles Sinneswandel nur belächelt. Jeder wusste, was den Bauern dazu bewogen hatte.
Die prunkvolle Hochzeit der Knudtsen-Tochter mit dem Spross der Klassen-Dynastie wurde an einem Sonntag im September gefeiert.
Rieke verbrachte zwar immer noch sehr viel Zeit in der Kirche und auf dem Friedhof, aber die Liebe ihres Mannes
tat ihr gut, das spürte Meta.
Nur dem aufmerksamen Beobachter wäre zu diesem Zeitpunkt aufgefallen, dass Riekes Fröhlichkeit allmählich einer tiefen Nachdenklichkeit gewichen war.
3
Auf dem Knudtsenhof begann die Weidesaison.
Das Milchvieh wurde auf die umliegenden Weiden getrieben, und Meta bestellte ihren Gemüsegarten.
Meta und Rieke saßen auf der Bank unter der alten Buche und schauten Stine beim Spielen zu.
Die Bäuerin genoss es, die kleine Stine aufwachsen zu sehen.
»Kinder werden so schnell groß«, stellte sie fest und fuhr fort: »Bald wird sie laufen können, du wirst sehen.«
Vorsichtig versuchte Stine einige bunte Bauklötze zu einem Turm aufzustapeln. Immer wieder griff sie mit ihren winzigen Händen nach den Steinen und jauchzte laut, wenn der Turm zusammenfiel.
»Siehst du die kleine, senkrechte Falte auf ihrer Stirn?«, fragte Meta und schaute ihre Enkelin prüfend an.
»Stine sieht dir sehr ähnlich, besonders wenn sie lacht«, fuhr Meta fort. »Sie ist viel weiter entwickelt als andere Kinder ihres Alters. Es wird nicht mehr lange dauern, dann spricht sie die ersten Worte.«
Die Bäuerin wandte sich lächelnd an ihre Tochter.
Doch Riekes Augen glänzten fiebrig und ihre Hände waren zum Gebet gefaltet.
Als Meta sie noch einmal ansprach, erschrak sie heftig und sprang verwirrt auf. Hastig riss sie die kleine Stine an sich und lief ins Haus.
Meta beobachtete das Verhalten ihrer Tochter mit Entsetzen. Es war ihr nicht entgangen, dass Rieke sehr nervös reagierte, wenn man sie unvermittelt ansprach. Manchmal schien sie mit ihren Gedanken in einer anderen Welt zu sein. Aber da die kleine Stine ein sehr lebhaftes Kind war, und Rieke ihre Mutterpflichten