Irrlichter und Spöckenkieker. Helga Licher

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Irrlichter und Spöckenkieker - Helga Licher

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normalen Überforderung einer jungen Mutter.

      Laas Klassen hatte sich in dem kleinen Fuhrbetrieb schnell unentbehrlich gemacht. Er verbrachte immer weniger Zeit zu Hause. Überstunden waren an der Tagesordnung, und so bemerkte er viel zu spät, dass seine Frau immer eigenbrötlerischer wurde und ihren Pflichten als Hausfrau und Mutter irgendwann nur noch sporadisch nachkam. Rieke begann von Erscheinungen zu sprechen und verschwand manchmal stundenlang, ohne dass jemand wusste, wo sie war. Laas ertrug geduldig das seltsame Verhalten seiner Frau. Pflichtbewusst versorgte er in seiner knapp bemessenen Freizeit seine Tochter Stine. Doch Meta sah mit großer Sorge, wie Rieke sich immer weiter von ihrer Familie entfernte und sich irgendwann kaum noch um ihren Mann und ihr Töchterchen kümmerte. Die Oldsumer beobachteten das sonderbare Verhalten der Rieke Klassen argwöhnisch. Einige lachten, andere zeigten mit dem Finger auf sie.

      »Rieke spinnt, das hat sie von ihrer Mutter. So was vererbt sich, würde mich nicht wundern, wenn die lütte Stine auch schon einen Spleen weg hat«, sagte der alte Hinrichsen am Stammtisch hinter vorgehaltener Hand.

      »Ich habe sie neulich an der alten Mühle gesehen. Sie hatte keine Schuhe an. Mit bloßen Füßen hüpfte sie in den Wasserpfützen herum.« Die Kellnerin aus dem Krog war entsetzt.

      Ole tat zwar so, als ob er die Sticheleien der Oldsumer nicht wahrnahm, aber das Gerede seiner Stammtischbrüder verletzte ihn sehr.

      Immer wieder versuchte Meta mit ihrer Tochter zu sprechen, um ihr einen Umzug aufs Festland nahe zu legen, doch Rieke wich stets aus.

      »Warum willst du nicht einsehen, dass es für euch das Beste ist? Deine Schwiegereltern wären froh, wenn sie durch euch entlastet würden. Laas kann im Geschäft seiner Eltern arbeiten und du kümmerst dich um Stine«, hatte Meta gefleht. Rieke jedoch hatte trotzig den Kopf geschüttelt und sich jede Einmischung in ihr Leben verbeten.

      Vielleicht wäre dieser Umzug eine Lösung gewesen, und die kleine Familie hätte in einer Umgebung, wo niemand Rieke Klassen kannte, endlich Ruhe gefunden. Doch Meta ahnte zu diesem Zeitpunkt bereits innerlich, dass sie das Schicksal nicht mehr aufhalten konnte.

      Zunächst versuchte die Bäuerin ihre Sorgen und Befürchtungen vor Ole zu verheimlichen. Doch es dauerte nicht lange, da traf der Bauer seine Tochter Rieke alleine am Dorfteich an. Sie stand mit den Füßen im Wasser und sprach laut vor sich hin. Den wirren Blick ihrer Augen sollte der Bauer sein Leben lang nicht mehr vergessen.

      Noch am gleichen Abend holte Ole Knudtsen die kleine Stine auf seinen Hof.

      In den ersten Wochen besuchte Laas Klassen seine Tochter regelmäßig, doch mit der Zeit sah man ihn häufiger im Wirtshaus als auf dem Knudtsenhof. Rieke wurde noch einige Male am Dorfteich und auf dem Friedhof in Süderende gesehen, dann verlor sich vorerst ihre Spur. Tagelang suchten Ole und Laas nach der jungen Frau, doch diese blieb verschwunden. Laas kehrte Oldsum schließlich den Rücken und ging zu seiner Familie aufs Festland zurück.

      Immer wieder gab es Gerüchte darüber, dass auch Rieke Föhr verlassen hätte und auf der Nachbarinsel Amrum leben würde. Doch Nachforschungen, die Ole zunächst noch anstellte, liefen ins Leere. Als man, an einem düsteren Herbsttag, Rieke Klassens Leiche aus dem Hafenbecken von Wyk zog, war Stine gerade drei Jahre alt geworden. Für Meta brach eine Welt zusammen. Sie fragte sich ununterbrochen, ob sie dieses Unglück, das sie doch vorausahnte, hätte abwenden müssen. Hatte es untrügliche Zeichen gegeben, die sie nicht begriff? Ole begann zu trinken und verbrachte seine Abende kaum noch zu Hause. Auf Fragen und Beileidsbekundungen reagierte er sehr abweisend und aggressiv.

      »Jeder kriegt das, was er verdient«, raunte er, als der Wirt vom Krog ihm sein Bedauern aussprach.

      Schließlich wusste jeder in Oldsum von dem angespannten Verhältnis des Knudtsen-Bauern zu seiner Tochter. Die Gespräche am abendlichen Stammtisch im Dorfkrug drehten sich in den folgenden Wochen nur um ein Thema.

      »Er hat sie in den Tod getrieben!«, behauptete der Apotheker und machte ein bedeutungsvolles Gesicht.

      »Na ja, Rieke war ein bisschen wunderlich. Das hat sie von ihrer Mutter. Wir können nur für die kleine Stine beten. Ole hat es schon nicht leicht mit seinen Frauen. Ich kann ihn gut verstehen.«

      Der alte Hinrichsen schüttelte bedauernd den Kopf.

      »Die Leiche war in einem schrecklichen Zustand. Fast hätten wir sie nicht erkannt. So was möchte ich nicht noch einmal sehen.«

      Der Polizist Walter Eggers verzog angewidert sein Gesicht.

      »Lieg du mal so lange im Wasser …«, murmelte Hinrichsen.

      Tagelang war die Polizei auf dem Knudtsenhof ein- und ausgegangen um nach Antworten auf die vielen Fragen zu suchen, die sich auch die Menschen in Oldsum stellten. Die Leiche war so stark verwest, dass die Todesursache und der Zeitpunkt ihres Sterbens von der Polizei nicht mehr festgestellt werden konnten. Es wurde noch eine Weile in verschiedene Richtungen ermittelt, doch neue Ergebnisse gab es nicht.

      Drei Tage nach Weihnachten wurde die Akte »Rieke Klassen« endgültig geschlossen.

       4

      Stine entwickelte sich zu einem bezaubernden Kleinkind, das ihren Großeltern viel Freude bereitete. Während Meta versuchte den frühen Tod ihrer Tochter zu verarbeiten, ging der Bauer relativ schnell wieder zum Tagesgeschehen über.

      Die Besuche im Wirtshaus wurden weniger, dafür kümmerte er sich liebevoll um seine Enkelin. Über Rieke wurde auf dem Knudtsenhof nicht mehr gesprochen, der Bauer ließ es nicht zu. Wenn Meta den Namen ihrer Tochter auch nur erwähnte, nahm Ole die kleine Stine auf den Arm und verließ demonstrativ das Zimmer.

      »Ich habe keine Tochter mehr«, sagte er stets, wenn jemand nach Rieke Klassen fragte.

      Schon früh übernahm Stine kleine Aufgaben in der Küche und half ihrem Großvater bei der Fütterung der Tiere auf dem Hof. Stine war sehr wissbegierig und verbrachte viele Stunden damit, in ihren bunten Bilderbüchern zu blättern. Abends, wenn auf dem Hof Ruhe einkehrte, erzählte Meta ihr Geschichten, die sie vor vielen Jahren schon ihrer Tochter Rieke erzählte.

      Manchmal fragte Stine nach ihrer Mutter, gab sich aber stets mit der Erklärung zufrieden, ihre Mutter sei bei einem Unfall ums Leben gekommen. Laas Klassen besuchte seine Tochter zuerst regelmäßig zum Geburtstag, heiratete dann aber eine Hoferbin vom Festland und begnügte sich damit, ab und zu eine Postkarte zu schreiben.

       5

      »Großmutter, mein Ball ist weg.«

      Stine blickte kurz zu ihrer Großmutter hinüber, hüpfte die Steinstufen der Terrasse hinunter und lief in den Garten.

      Nachdenklich ließ Meta Knudtsen ihr Strickzeug sinken und sah ihrer Enkelin nach.

      Der frühe Tod der Mutter hatte die Sechsjährige vorzeitig zu einem verantwortungsbewussten Mädchen werden lassen, welches seine Großmutter über alles liebte. Oft, wenn Meta das Kind beim Spielen beobachtete, musste sie unweigerlich an ihre einzige Tochter denken. Stine war ihrer verstorbenen Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie hatte die gleichen dunklen Augen, die neugierig in die Welt blickten, und trug, genau wie ihre Mutter, das dicke, braune Haar zu einem Zopf geflochten.

      Schmerzlich erinnerte Meta sich an Riekes Todestag, der sich

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