Irrlichter und Spöckenkieker. Helga Licher
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Читать онлайн книгу Irrlichter und Spöckenkieker - Helga Licher страница 8

»Morgen gehst du zum alten Onkel Feddersen, er hat kleine Kaninchen. Vielleicht schenkt er dir eines.«
Um die Familie nicht ins Gerede zu bringen, forderte Meta von der Kleinen absolutes Stillschweigen, auch dem Großvater gegenüber. Niemand durfte erfahren, was dort auf dem Friedhof geschehen war.
»Wenn du erwachsen bist, wirst du verstehen warum du Dinge siehst, die andere nicht sehen.«
Die Bäuerin wusste, ihre Enkelin musste irgendwann erfahren, welch schweres Erbe sie zu tragen hatte.
Stine hielt sich gehorsam an die Anweisungen ihrer Großmutter, sie konnte sich ja selber nicht erklären, was an diesem verhängnisvollen Sonntag wirklich geschehen war.
Sie hatte eine schwebende Frau gesehen.
Doch offenbar konnten andere Menschen diese Frau nicht sehen. Stine verstand das alles nicht. Folgsam versuchte sie das Ereignis auf dem Friedhof zu vergessen.
Niemand sollte sagen - Stine spinnt …
Dem aufmerksamen Beobachter fiel allerdings auf, dass Stine ihre kindliche Fröhlichkeit verloren hatte. Nur noch sehr selten hörte man ihren ausgelassenen Gesang, sie wurde ihrer Mutter immer ähnlicher. Still und in sich gekehrt saß sie oft unter der alten Buche und sah gedankenverloren über das Moor. So sehr sie sich auch darum bemühte, konnte sie die Erscheinung auf dem Friedhof nicht vergessen.
Immer wieder sah sie das bleiche Gesicht der weißgekleideten Frau vor sich und jedes Mal begann ihr Herz heftig zu klopfen. Doch sie traute sich nicht Großmutter Meta noch einmal auf dieses Erlebnis anzusprechen.
»Warte bis du erwachsen bist …«, hatte sie gesagt und daran hielt Stine sich.
Langsam kehrte der Alltag auf dem Knudtsenhof wieder ein. Am Abend jedoch, wenn alle Lichter gelöscht wurden und die Dunkelheit einen Schleier des Vergessens über den alten Hof ausbreitete, sah man Meta manchmal in ein Gebet vertieft vor dem Hausaltar knien.
8
Die Jahre vergingen, Stine wurde älter und entwickelte sich zu einem pflichtbewussten jungen Mädchen.
Ihre kindlichen Gesichtszüge verschwanden mehr und mehr.
Die hohen Wangenknochen verliehen ihrem Gesicht eine gewisse Kühle, die durch die sanft geschwungenen, vollen Lippen wieder aufgehoben wurde.
Stine war eine gute Schülerin und nahm mit Freude am Konfirmationsunterricht teil.
»Was wünscht ihr euch für euer Leben?«, hatte Pfarrer Harms vor einigen Tagen seine Schülerinnen gefragt. Die Mädchen mussten nicht lange überlegen. Viele sahen den Sinn ihres Lebens darin einen Beruf zu erlernen, eine Familie zu gründen oder glücklich zu sein.
Stine hatte lange nachgedacht, bevor sie schließlich leise sagte:
»Ich wünsche mir Frieden. Es soll nie wieder einen Krieg geben …«, hatte sie geantwortet.
Am liebsten saß sie alleine auf der morschen Bank hinter den Stallungen und las in einem der vielen Bücher, die sie sich in der Kirchenbibliothek auslieh. Sie liebte die Geschichten von Karl May und las begeistert Berichte des berühmten Afrikaforschers David Livingstone.
Ihr Lieblingsbuch jedoch war ein kleines, unscheinbares Büchlein mit dem Titel: »Friesische Sagen und Erzählungen« von Christian Peter Hansen. Sie hatte es eines Tages zufällig in der Sakristei der St. Laurentii Kirche entdeckt, und Pfarrer Harms hatte ihr erlaubt das Buch zu lesen.
Stine war fasziniert von den Geschichten des Kobolds Ekke Nekkepenn, der mit seiner Gemahlin in einem Kristallpalast auf dem Grunde der Nordsee wohnen sollte. Der Sage nach hatte der friesische Meeresgott oft mit den Schiffskapitänen seinen Schabernack getrieben. Für den Salzgehalt der Nordsee war seine Frau Ran verantwortlich. Während Ekke Nekkepenn am Strand hübschen Mädchen nachstellte, saß sie am Meeresgrund und mahlte Salz. Häufig mahlte sie so ungestüm, dass viele Segelschiffe im Meer versanken.
Stine träumte davon auf einem Segelschiff um die Welt zu segeln und all die Geschichten aus ihren Büchern selber zu erleben. Doch sie wusste auch, dass dieser Wunsch immer ein Traum bleiben würde …
Mit der Zeit verblassten die Erinnerungen an die schwebende Frau, und irgendwann hatte Stine den Gedanken daran verdrängt. Nur manchmal, wenn sie ein Kreuz sah, dachte sie flüchtig an das unheimliche Erlebnis auf dem Friedhof.
Dann kam der Tag ihrer Konfirmation. Stine trug das erste Mal die Föhrer Tracht und stand stolz im Kreise ihrer Mitschülerinnen in der kleinen St. Laurentii Kirche von Süderende. Der schwere Stoff des dunkelblauen Rockes und die strahlend weiße Schürze unterstrichen ihre zierliche Figur und ließen sie noch schlanker erscheinen. Nervös zupfte sie an dem schwarzen Kopftuch, dass Meta kunstvoll um Stines Haar geschlungen hatte. Sie konnte nur hoffen, dass das Tuch nicht verrutschen würde.
Ehrfürchtig lauschte sie den Worten des Pfarrers. Er sprach von Pflichtbewusstsein und von der Achtung den Eltern gegenüber. Andächtig faltete das Mädchen ihre Hände, den Blick auf den Altar gerichtet.
Während die Gemeinde das Lied »Großer Gott, wir loben dich«, anstimmte, segnete Pfarrer Harms die Konfirmanden.
Niemand bemerkte, wie Stine plötzlich erstarrte und mit versteinertem Gesichtsausdruck, am Pastor vorbei, in die Ferne starrte. Aus ihrem Gesicht war jede Farbe gewichen, gespenstisch traten die dunklen Augen aus dem bleichen Antlitz hervor. Das Mädchen verstand längst nicht mehr den Sinn der gesprochenen Worte.
Wie in Trance wanderte ihr Blick zu dem bronzenen Kreuz, das seitlich vor dem Altar stand. Ihr Atem ging stoßweise und ihre Schultern verkrampften sich. In ihrem Bewusstsein tauchten Bilder auf, die an ein bestimmtes Ereignis erinnerten. Aber noch bevor Stine diese Bilder in ihrer Erinnerung verankern konnte, verschwanden sie wieder.
Mit unendlicher Kraft löste sie ihren Blick von dem Kreuz und schaute zu ihren Großeltern hinüber. Sie sah das Entsetzen in den Augen ihres Großvaters und die Tränen, die ihrer Großmutter unaufhaltsam die Wangen hinunterliefen. Stine schämte sich entsetzlich. Die Konfirmation sollte einer der schönsten Tage in ihrem Leben werden, doch nun wurde dieser Tag zum Albtraum. Die Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt, und jeder wurde Zeuge, wie Stine Knudtsen sich und ihre Großeltern zum Gespött der Leute machte.
Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte weder ihren Körper noch ihre Gedanken kontrollieren.
»Verzeiht mir …« wollte sie sagen, doch aus ihrer Kehle kam nur lautes Gekrächtze. Pfarrer Harms zuckte zusammen, faltete die Hände zum Gebet und ließ seinen Blick hilflos zum Altar wandern. Er stammelte unverständliche Worte und bekreuzigte sich immer wieder.
Inzwischen waren die Menschen in der St. Laurentii Kirche auf das seltsame Verhalten der Stine Knudtsen aufmerksam geworden.
Während Bauer Knudtsen polternd von der Bank aufsprang, flüchteten Stines Mitschüler unter Gekreische in den hinteren Bereich der Kirche. Zusammengedrängt standen sie dort und schauten das Mädchen an, das am ganzen Körper zitterte.
»Sie ist eine Hexe«, wisperte Gerrit Mattes und machte ein bedeutungsvolles Gesicht. Die Mitschüler warfen ihr bewundernde Blicke zu. Viele von ihnen dachten in diesem Augenblick