Irrlichter und Spöckenkieker. Helga Licher
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Читать онлайн книгу Irrlichter und Spöckenkieker - Helga Licher страница 11
Stine nahm die Veränderung, die in dem Bauern vorging wahr, und zog sich immer tiefer in sich selbst zurück. Der Gedanke, ihrem Großvater seinen Lebenstraum zerstört zu haben, war unerträglich für sie. Würde Ole ihr das je verzeihen?
Doch was sollte sie tun? Stine spürte, die »weiße Frau« nahm immer mehr Raum in ihrem Leben ein. Seit diesem verheerenden Zwischenfall während der Konfirmation mied Stine den Anblick eines Kreuzes. Aber sie spürte instinktiv, dass nicht das Kreuz der Auslöser für ihre nächtlichen Träume war.
Eine unbändige Wut stieg in ihr auf. Wer war diese »weiße Frau«, die offenbar ihr Leben zerstören wollte?
Aber sie war sicher, mit aller Kraft würde sie sich dagegen zu wehren wissen …
Nach wie vor ging Stine zur Schule und half ihrer Großmutter im Haushalt. Sie ging den Knechten bei der Heuernte zur Hand und kümmerte sich um den Gemüsegarten. Doch ihr Lachen und ihre Fröhlichkeit fand sie nicht wieder.
Aus einem heiteren, aufgeschlossenen Mädchen war eine in sich gekehrte, junge Frau geworden, die den Menschen aus dem Wege ging. Die Schuldgefühle ihrem Großvater gegenüber ließen sie nicht zur Ruhe kommen.
Es brach Meta das Herz, mit ansehen zu müssen, wie ihre Enkelin immer schwermütiger wurde.
»Stine sollte von hier weggehen«, sagte der Pfarrer eines Tages zu Ole Knudtsen, als die Männer sich im Wirtshaus trafen.
»Wenn du einverstanden bist, höre ich mich einmal um. Stine ist ein fleißiges Mädchen, eine Anstellung für sie zu finden, dürfte nicht schwierig sein.«
Ole sah den Pfarrer nachdenklich an, dann nickte er.
»Du hast wohl recht«, sagte er einsilbig und trank sein Glas in einem Zug leer. Zögernd stand er von seinem Stuhl auf und stützte sich schwankend mit den Händen auf der Tischplatte ab. Mit glasigen Augen starrte er den Pfarrer an.
»Bring Stine weg von hier, damit in Oldsum endlich wieder Ruhe einkehrt«, sagte er mit brüchiger Stimme und griff nach seiner Jacke. Unsicher, mit schlurfenden Schritten, ging er zur Tür und verließ das Wirtshaus, ohne sich von dem Pfarrer zu verabschieden.
10
Es regnete in Strömen, und ein frischer Wind fegte die letzten Blätter von den Zweigen der knorrigen Eichen am Rande des Dorfteiches. Nach dem heißen, trockenen Sommer setzten die Herbststürme bereits in den letzten Oktobertagen ein. Die Zuckerrüben waren gerade geerntet, als bereits der erste Schnee fiel. Die Menschen auf Föhr bereiteten sich auf einen langen, harten Winter vor.
Stine Knudtsen vergrub ihre Hände tief in die Taschen ihrer Wolljacke. Es war leichtsinnig, keine Handschuhe anzuziehen, dachte sie und beschleunigte ihre Schritte. Sie wollte unbedingt noch vor dem Dunkelwerden zu Hause sein, da heute auf dem Knudtsenhof Schlachtfest war und sie ihrer Großmutter bei den Vorbereitungen helfen musste. Stine liebte die Arbeit in der Küche, doch der Gedanke an die vielen Gäste, die sich zum Essen angesagt hatten, bereitete ihr Unbehagen. Meistens löste sie das Problem auf ihre Weise. Sie half ihrer Großmutter die Speisen zu servieren, nahm aber an der anschließenden Mahlzeit nicht teil. Genau so werde ich es heute machen, dachte sie und beschleunigte ihre Schritte.
»Warum so eilig? Warte doch mal …«
Stine drehte sich überrascht um. Sie war tief in Gedanken versunken und hatte gar nicht bemerkt, dass ihr jemand folgte. Jan Nansen, der Sohn des Bürgermeisters, blieb ganz in ihrer Nähe stehen und klopfte den Schnee von seinem Mantel. In seinen blonden, vom Wind zerzausten Haaren schimmerten die Schneeflocken wie kleine Kristalle.
Stine war ebenfalls stehen geblieben und sah fasziniert in seine Augen. Ihr Herz begann ungestüm zu klopfen - ein Gefühl, das Stine nicht kannte.
Sie hatte den jungen Mann schon einige Male in Oldsum gesehen, doch er war ihr nie besonders aufgefallen.
Stine war es gewohnt, von den Jungen des Dorfes beschimpft und verhöhnt zu werden, aber Jan verhielt sich anders. Sein Blick war offen und freundlich. Schüchtern schaute er sie mit warmen, braunen Augen an.
»Was willst du, ich habe es eilig«, sagte Stine und wollte schon ihren Heimweg fortsetzen. Sie war sehr vorsichtig geworden, denn schon zu oft hatte sie sich in einem Menschen getäuscht.
Jan legte seine Hand auf ihren Arm.
»Bleib doch mal stehen, ich will dich etwas fragen«, sagte er und lächelte.
»Am nächsten Sonntag ist das Feuerwehrfest, hast du Lust mit mir dorthin zu gehen?«
Stine sah den Burschen entgeistert an, einen Augenblick dachte sie, nicht richtig gehört zu haben.
»Du willst mit mir zum Feuerwehrfest gehen?«
Jan drehte verlegen seine Handschuhe in den Händen und nickte. Offensichtlich hatte es ihn sehr viel Überwindung gekostet, Stine anzusprechen.
»Warum sollten wir nicht zum Fest gehen?«, fragte er verunsichert.
»Oder gehst du schon mit einem anderen?«
Stine lächelte und schüttelte den Kopf. Die Idee mit irgendjemandem auf ein Fest zu gehen, kam ihr so absurd vor, dass sie lachen musste.
»Du glaubst doch nicht, dass dein Vater damit einverstanden ist. Weißt du, was man im Dorf über mich erzählt? Anscheinend weißt du es nicht, sonst hättest du mich nicht gefragt. Nein, nein schlag dir das aus dem Kopf, und such dir eine andere.«
Stine schlug fröstelnd den Mantelkragen hoch und wandte sich ab. Es wurde bereits dämmerig, ihre Großmutter würde längst auf sie warten. Sie ließ den jungen Mann einfach stehen und stapfte mit großen Schritten auf den Knudtsenhof zu.
Die meisten Gäste saßen schon an der langen Tafel in der guten Stube, als Stine über die Diele in die Vorratskammer ging. Sie zog den Mantel aus und hing ihn zum Trocknen an den Räucherofen. Mit einigen Griffen richtete sie ihr Haar und zog trockene Schuhe an. Unbemerkt schlich sie an der Stubentür vorbei in die Küche. Mit hochrotem Kopf stand Meta Knudtsen am Kohlenherd und rührte in einem Kessel mit Wurstsuppe. Der Schweiß rann ihr in Strömen von der Stirn. Die Temperaturen in der Küche waren unerträglich.
Sie warf Stine einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Jetzt bin ich mit der Arbeit fast fertig, warum kommst du so spät? Das Essen muss serviert werde. Bitte beeil dich.«
Stine dachte an Jan Nansen, immerhin war er der Grund für ihre Verspätung. Doch ihre Unterhaltung mit dem jungen Nansen, und die Einladung zum Feuerwehrfest erwähnte sie nicht.
»Ich bin aufgehalten worden, tut mir Leid, Großmutter.«
Stine griff nach einer Wurstplatte und verschwand durch die Tür.
Ein verlegenes Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie die Platte in der Stube auf den Tisch stellte. Sie fühlte sich in Gesellschaft einfach nicht wohl und wartete sehnsüchtig darauf, wieder in die Küche flüchten zu können. Aber sie wusste auch, was man von einer Knudtsen-Enkelin erwartete