Natürlich heilen mit Bakterien - eBook. Anne Katharina Zschocke

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Natürlich heilen mit Bakterien - eBook - Anne Katharina Zschocke страница 15

Серия:
Издательство:
Natürlich heilen mit Bakterien - eBook - Anne Katharina Zschocke

Скачать книгу

die sich unpassend vermehren und zu einer ungesunden Gesamtheit führen. Nißle nannte dies »Dysbakterie«[2] und vermutete darin die Hauptursache für Krankheitszustände.84

      Im Grunde genommen spricht Nißle unbemerkt in seinen damaligen Veröffentlichungen bereits das nötige Gleichgewicht in der Bakterienbesiedelungan, das die Mikrobiomforschung jetzt wieder als lebensnotwendig entdeckt. Er schrieb damals, dass es auf die Stärke der eigenen »persönlichen« Coli-Bakterien »gegenüber Infektionserregern« ankomme.85 Allerdings hielt er seine Coli für die einzigen Bakterien, die sich im Darm ansiedelten, während geschluckte Milchsäurebakterien dies dort den Stuhluntersuchungen nach nicht taten. Er begrenzte seinen Blick damals auf diese einzelne Bakterienart, und so fehlte ihm die Einsicht in die größere bakterielle Vielfalt.

      Nißle war Stabsarzt, hatte also eine militärische Ausbildung, und als Lösung sah er standesgemäß die »Bekämpfung« der Situation. Auch er war in seinem Denken gefangen, hatte allerdings bereits ein anderes Menschenbild als das auf Seite 21ff. geschilderte.86 Während man sich zuvor den Menschen als bakterienfrei vorstellte und alle Bakterien als äußere Feinde betrachtete, die ihn bedrohen, entwickelte man nun das Bild, es gebe im Menschen gleichzeitig gesunde und krank machende Bakterien. Diese befänden sich beständig in Konkurrenz gegeneinander und bekämpften sich innerhalb des Organismus. Der Kampf wurde quasi ins Innere des Menschen verlagert. Daraus entwickelte sich die Vorstellung, es gebe »gute« und »schlechte« oder gar »böse« Bakterien, und die guten seien zu fördern und die schlechten auszurotten. Für die guten nimmt man folglich Probiotika, gegen die schlechten Antibiotika. So buk die heute zu Bahlsen gehörende sächsische Wurzener Biscuitfabrik in den dreißiger Jahren »Krietsch Yoghurt-Kekse«, deren »Gesundheitsbakterien« »Körper und Geist vor den verderblichsten Feinden«, den »giftigen Bakterien«, »sichern« sollten.

      Alfred Nißle gilt als der Begründer der probiotischen Therapie, auch wenn es diesen Begriff erst später gab. Er hatte gezeigt, dass Bakterien Krankheiten heilen. Tragischerweise entwickelte sich sein Therapieansatz in einer Zeit, die politisch anders ausgerichtet war und in der bald darauf der »Siegeszug« der Antibiotika begann.

      Belächelt von Vertretern der »offiziellen« Medizin, lebte die Darmbehandlung mit Bakterien daraufhin erfolgreich ein bescheidenes Schattendasein in der »Alternativmedizin«, bis die Mikrobiom-Forschungswelle sie jetzt wiederbelebte. Im Jahr 2015 nennt Die Rote Liste, das Arzneimittelverzeichnis für Deutschland, 19 370 Medikamente in 5503 Präparate-Einträgen.87 Darunter sind nur 446 pflanzliche und bloß 46 mit Mikroorganismen.

      In gewisser Hinsicht wird die alte Coli-Therapie neuerdings sogar wieder aufgegriffen, denn in der modernen »Stuhltransplantation« mit dem Schlucken von Kapseln mit Stuhl einer anderen Person (siehe Seite 206) kehrt man, ohne bewusst darauf zurückzugreifen, nach hundert Jahren in die Anfänge der Darmbakterientherapie zurück.

      Heilen mit Bakterien wurde in dem Jahrhundert ihres Bestehens immer wieder diskutiert, und die positiven Wirkungen bei Mensch und Tier wurden in wissenschaftlichen Studien vielfach nachgewiesen.88 Solange man die Therapie jedoch auf nur einen Einzelstamm beschränkt, bleibt sie unvollständig. Sie wurde daher nicht allgemein anerkannt.

      In den Jahren nach Nißle entwickelten zahlreiche Forscher mit den offenbar sympathischeren Milchsäurebakterienstämmen ebenfalls Heilkonzepte. Während die Coli-Präparate zu Medikamenten wurden, wurden aus Milchsäurebakterien eher »Probiotika«. Einen kläglichen Versuch, den bekannt werdenden Antibiotikaresistenzen im Körper etwas Schützendes entgegenzusetzen, gab es dazwischen in den sechziger Jahren mit dem »Antibiophilus«, einem Medikament mit »antibiotikaresistentem Lactobacterium acidophilum«[4]: 10 Gramm für 9,05 (!) DM, Dosierung: 3 bis 4 halbe Kaffeelöffel täglich.

      Albert Döderlein (1860–1941) hatte im Jahr 1890 die Milchsäurebakterien als gesunde Besiedelung der Vagina entdeckt. Der Kinderarzt Ernst Moro (1874–1951) kultivierte sie in saurer Bierwürzebrühe und nannte sie acidophilus, »säureliebend«. Henri Tissier (1866–1926), Kinderarzt im Institut Pasteur in Paris, isolierte 1899 aus dem Stuhl gestillter Babys das milchsäurebildende Bifidobakterium, das durchfallkranken und flaschenmilchgefütterten Kindern mangelte. Seinen Namen bifidus, lateinisch für »in zwei Teile gespalten«, erhielt es 1924wegen seiner Y-ähnlichen Form. Lactobacillus und Bifidobacterium sind bis heute zwei der gängigsten Probiotika-Gattungen. Sie können für ein Gleichgewicht im Mikrobiom sorgen.89

      Man versuchte, besonders geeignete Stämme zu vermehren, um sie mit fermentierten Lebensmitteln für die Gesundheit einzusetzen, stieß jedoch auf verschiedene Schwierigkeiten, etwa dass sie ihren Stoffwechsel änderten,90 im gewünschten Lebensmittel nicht ausreichend überlebten, es nicht möglich war, sie präzise zu identifizieren und zu benennen. Außerdem wusste man nicht, welche Wirkung sie im Körper überhaupt entfalteten.

      Der Kopenhagener Milchforscher Sigurd Orla-Jensen (1870–1949) versuchte 1912, den traditionellen Lactobacillus bulgaricus bei der Joghurtherstellung durch Lactobacillus acidophilus zu ersetzen, weil er ihn wegen seines Vorkommens im Menschen für diesen für verträglicher hielt. Man suchte nämlich Stämme, die angeblich besser die »Magen-Dünndarm-Passage« überlebten, mit dem Wunsch, bestimmte Bakterien im Dickdarm anzusiedeln. Daraus entstand die sogenannte »Azidophilus-Milch« und 1934 ein »Reformjoghurt«,91 der auf die Arbeiten von Gärungsforscher Wilhelm Henneberg (1871–1936) in Kiel zurückging. Da damit jedoch keine gewinnbringende Herstellung mehr gelang, begnügte man sich schließlich damit, ihn den beiden üblichen Joghurt-Stämmen Lactobacillus bulgaricus und Streptococcus thermophilus hinzuzugeben.

      Die europäische mikrobiologische Forschungswelle zu gesundheitsfördernden Mikrobenkulturen hatte weltweit Interesse ausgelöst. In Japan isolierte im Jahr 1930 Minoru Shirota (1899–1982) Lactobazillen aus dem Darm eines Kindes und brachte sie 1935 als gezuckerten Azidophilus-Joghurt-Drink in hübschen handlichen Fläschchen als »Yacult« in den Handel. 1974 stellte sich zwar heraus, dass andere Lactobazillen darin waren als deklariert, nämlich Lactobacillus casei. Das Produkt gelangte dennoch, künstlich vitaminisiert, gezuckert, aromatisiert oder mit Süßstoff versetzt, nach Europa und wurde 1995 auch in Deutschland eingeführt.

      Der Zweite Weltkrieg verschob die Perspektive der Bakteriologen in Richtung Antibiotika, sodass der Gedanke an Ernährung und Medizin mit heilenden Bakterien weitgehend verdrängt wurde.

      Einige Ärzte, die früh vor dem Gebrauch und den Folgen der Antibiotika warnten, widmeten sich dennoch dem praktischen Einsatz von Bakterien für die Heilung. Ihr Arbeiten war nicht immer leicht. Arthur Becker (1893–1952), Facharzt für innere Medizin und Bakteriologie, war der damalige Pionier der Heilanwendung von Bakterien. Er arbeiteteals Arzt, derweil er über mikrobiologische Therapie forschte, war aber Repressionen ausgesetzt und musste in den dreißiger Jahren mehrfach in die Schweiz flüchten, weil man ihm ein Berufsverbot auferlegte und die jeweiligen Forschungslabore schloss. Erst nachdem wieder Frieden eingekehrt war und sich die Lebensbedingungen nach 1945 wieder normalisierten, konnte er weiterforschen. Mit ihm arbeiteten Kollegen zusammen, sie trafen sich, tauschten ihre guten Erfahrungen mit der Bakterientherapie untereinander aus, entwickelten sie weiter und begründeten im Jahr 1954 in Hessen den »Arbeitskreis Mikrobiologische Therapie«,

Скачать книгу