Ein schönerer Schluss. Bekim Sejranović

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Ein schönerer Schluss - Bekim Sejranović Transfer Bibliothek

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1.

      Nach zwei Wochen gelang es mir endlich, die Post vor halb zwei auszutragen. Um zwei war ich mit dem roten Postwagen, in dem nur noch die fast leere Posttasche und drei leere Säcke mit dem Siegel der norwegischen Post lagen, wieder zurück. Mit den neuen Kollegen ging ich auf Bier und Pizza. Stumm schielten sie auf mein Stück mit dem Schinken. Als sie sahen, dass ich die Post vor halb zwei austragen kann, dass ich Schweinefleisch esse und Bier trinke, wurde ich einer von ihnen.

      Die Woche über arbeitete ich, nach der Arbeit ging ich auf ein Bier oder schlenderte durch die Stadt. Dann ging ich nach Hause, machte mir etwas zu essen, schaute zusammen mit meinen Mitbewohnern einen Film, schlief, wachte um halb fünf auf und ging wieder zur Arbeit bei der Post. Freitags betranken wir uns zu Hause, und samstags gingen wir aus und betranken uns wieder. Egil legte jeden Samstag in einem Klub auf, weshalb ich umsonst hineinkam. Im Klub waren morgens um halb eins alle betrunken oder auf Speed. Egil beschleunigte den Rhythmus, und alle hüpften wie wild. Die Jungs näherten sich den schöneren Mädchen von hinten, und die wackelten mit nach hinten gestrecktem Po und versuchten die schwarzen Girls aus den amerikanischen Musikvideos nachzumachen. Heiße und weniger attraktive Mädchen machten aufgegeilte Jungs an. Um drei endete alles wie bei einer Razzia. Alle rannten raus, um ein Taxi zu erwischen, bevor sich eine kilometerlange Schlange gebildet hatte. Das machten in der Hauptsache die, denen es geglückt war, jemanden abzuschleppen. Die weniger Glücklichen gingen zu Fuß auf Kebab und Cola und dann nach Hause, torkelnd und unzufrieden herumbrüllend.

      Sonntagmorgens zwischen drei und sieben ist Oslo die traurigste Stadt auf der Welt.

       2.

      Es vergingen mehrere regnerische und immer dunklere Wochen. Briefträger mögen keinen Regen, aber mich störte er nicht. Ich kam nass, durchgefroren und hungrig nach Hause. Es war ein wahrer Genuss, die nassen Sachen auszuziehen, heiß zu duschen, etwas Trockenes und Warmes anzuziehen, mir eine Bakalarsuppe zu machen, sie am Fenster zu schlürfen, hinauszusehen und nicht nachdenken zu müssen. Manchmal kochte Egil für uns beide, manchmal ich. Er beklagte sich in der Zeit zunehmend, dass er viel zu lernen habe und dass ihm der Regen schon auf den Keks gehe und er es kaum erwarten könne, dass es schneit und wir langlaufen können. Ich stimmte ihm zu, dass es wirklich höchste Zeit sei, dass es schneit. Dann hatten wir einander nichts mehr zu sagen, und jeder ging auf sein Zimmer. Man konnte sagen, dass sich Egil mehr mit Musik als mit Worten ausdrückte, sodass unser Miteinander sich im Großen und Ganzen darauf reduzierte, dass er auf Partys der DJ war und ich dazu tanzte. Manchmal, wenn es Schnee gab, gingen wir langlaufen. Wenn ich nicht arbeitete, auf einer Party abhing oder langlief, verbrachte ich meine Zeit mit Lesen. Manchmal versuchte ich auch zu schreiben, aber hauptsächlich lag ich auf dem Bett, rauchte Haschisch, hörte Musik und sah aus dem Fenster.

      Ich musste oft daran denken, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ich auf meine Ex stoßen würde. Ich wusste nicht, ob ich sie überhaupt sehen wollte. Vielleicht war es das Beste, sie anzurufen, ein Treffen auszumachen, sich in einem Café zu sehen und eine halbe Stunde miteinander zu reden. Länger halte ich es in einer Kneipe nicht aus, ohne etwas zu trinken. Aber wenn ich anfange zu trinken, dann ist alles gelaufen. Was ist gelaufen? Alles. Warum also sollte ich mich überhaupt mit ihr treffen? Wir würden uns früher oder später sowieso begegnen, vielleicht wäre es besser, früher. Vielleicht. Vielleicht wäre es besser, nie. Wir bräuchten uns überhaupt nicht zu unterhalten; uns gegenseitig anzusehen würde reichen, dass uns leichter wird. Vermutlich würde uns leichter werden. Du weißt, dass es das nicht wird. Ein Wort von ihr genügt, um dich wütend zu machen, oder völlig fertig. Da ist es doch besser, wenn wir uns später treffen.

       3.

      Wir trafen uns Mitte Dezember. Es hatte gerade angefangen zu schneien. Dicke feuchte Flocken versprachen, dass der Schnee nicht auf den Gehsteigen der Stadt liegen bleiben würde. Aber in den Wäldern oberhalb von Oslo, in Nordmarka, lag der Schnee sicher schon einen halben Meter hoch. Ich war mit der Arbeit fertig und schlenderte durch die Stadt, schwebte fast durch die Schneeflocken. Ich hatte kein Ziel, ich konnte nur nicht an einem Ort sein. Dann kam ich auf die Idee, zum Friedhof hinaufzugehen, um Ibsen zu besuchen, und dann durch Grünerløkka nach Hause. An der Straßenbahnhaltestelle bei VG, unter der vorragenden Fassade des Gebäudes, stand sie. Vor ihr ein Kinderwagen. Das Kind, genau genommen noch ein Baby, war kaum zu sehen, es wurde von der Plane des Wagens verdeckt und war in einen Wollschal gewickelt. Auf dem Kopf hatte es eine Wollmütze, sodass von ihm nur seine blauen Augen zu sehen waren. Es brüllte, offenbar vor Wut. Als ich zu ihnen trat, um sie zu begrüßen, hörte es auf, begann zu schluchzen und mit dem Kopf hin und her zu wackeln.

      Sie stand währenddessen ruhig da und sah nachdenklich vor sich hin. Als ich sie begrüßte, drehte sie den Kopf zu mir, lachte herzlich, kam näher und umarmte mich freundschaftlich.

      Wir wechselten ein paar Sätze. Das Kind fing wieder an zu weinen, aber nicht mehr so laut, weil es sich schon etwas beruhigt hatte. Ich hatte so viele Fragen und wusste, dass ich die Antworten nicht würde ertragen können. Ich wollte sie fragen, wo sie wohnt, was sie tut, wie es ihr geht. Ich wollte sie fragen, wessen Kind das ist. Aber diese Frage konnte ich ihr jetzt und hier nicht stellen, nicht an der Straßenbahnhaltestelle vor dem VG-Gebäude, während der erste Schnee fällt und ihr und wer weiß wessen Kind im Wagen liegt und greint. Diese Fragen werde ich ihr nie und nirgends stellen können, denn wenn die Antworten nicht wehtäten, würde ich ihnen nicht glauben. Und wenn sie wehtäten, weiß ich nicht, ob ich mit ihnen leben könnte.

      Sie fragte mich, ob ich es eilig hätte. Vielleicht könnten wir irgendwohin auf einen Kaffee oder Tee gehen? Ich hatte es nicht eilig. Ich stellte mir uns beide in einem Café vor, das weinende Kind neben uns, und das Gespräch, das wir führen würden, und die Fragen, die ich gern stellen würde, ihre Fragen, auf die ich nicht gern antworten würde, und den wahrscheinlichen Streit, den wir anzetteln würden. Und noch schlimmer, ich stellte mir vor, dass wir im Bett landen, dass wir uns wieder in ein vergiftetes Knäuel aus Liebe, Hass, Misstrauen, Leidenschaft und Eifersucht verstricken würden. Alles das sah ich vor mir. Ich sah alle unsere Möglichkeiten vor mir. Das war mein Problem. Ich glaubte, die Zukunft vorherzusehen, vor allem dann, wenn sie nicht glänzend zu sein versprach.

      Ich sagte, ich hätte keine Zeit. Sie wandte sich dem Kind im Wagen zu und stellte mich vor, als würde sie zu einem erwachsenen Menschen sprechen. Die Kinderaugen waren rot vom Weinen, sahen mich aber an. Sie wickelte den Schal ab, damit ich sein Gesicht sehen konnte. Sie sagte, es sei ein Junge, sagte aber weder seinen Namen noch wie alt. Sie beugte sich hinunter, wischte sein verweintes Gesicht ab und hob ihn heraus. Sie hielt ihn mir hin, damit ich ihn besser sehe. Ich reichte ihm die Hand, und er ergriff meinen Finger. Sie lächelte von einem Ohr zum anderen und sagte:

      – Ist er nicht süß?

      Ich zog den Finger schnell zurück, und der kleine Junge fing wieder an zu weinen. Er sah mich an, und mir schien, als hätte er diese großen, glänzenden Augen vor gut dreißig Jahren von mir gestohlen und wollte sie mir jetzt zurückgeben. Sie versuchte, ihn mir in den Arm zu legen, aber ich wich erschrocken zurück. Ich sagte, sie solle damit aufhören. Sie sah mich an, kam wieder näher und fragte mich ganz verwundert:

      – Aufhören? Womit … aufhören?

      Ich rückte von ihr weg, wütend, aber ich konnte den Blick nicht von dem Jungen wenden, der nicht aufhörte zu weinen. Dann sah ich, dass sie lächelte, ich wandte mich ab und ging hastig die Straße hinunter, überall um mich herum waren Schneeflocken. Ich hörte sie etwas rufen, drehte mich noch einmal um und sah, wie sie dastand, das Kind in den Armen, wie sie rief, aber ich hörte es nicht mehr. Wieder wandte ich mich um und lief in die Dunkelheit hinein, in den Schnee.

      Ich lief zum Friedhof,

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