Ein schönerer Schluss. Bekim Sejranović

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Ein schönerer Schluss - Bekim Sejranović Transfer Bibliothek

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kommen zusammen zum Fahrstuhl. Wir fahren hinunter ins Erdgeschoss, grüßen einander und gehen jeder in seine Richtung ab.

      Ich will zurück in die Stadt, aber auf einem anderen Weg. Wieder scheint die Sonne. Neben mir marschieren Ströme von Studentinnen und Studenten. Ich sehe in ihre Gesichter, stelle mir ihre Leben vor. Ich versuche mir auch meines vorzustellen, kann es aber nicht. Mir wird etwas leichter, und befreit gehe ich in Richtung Zentrum. In Oslo kannst du dich nicht verirren. Du gehst nur bergab und kommst immer ins Zentrum.

      X

       1.

      Der November zieht ins Land, die bewaldeten Berge sind rasch glatzköpfig geworden, wie ein Kranker nach der Chemotherapie. Auf dem felsigen Gipfel, dessen von Meeresfossilien gefurchte Wände davon zeugen, dass sich hier einmal das Südufer des Pannonischen Meeres befunden hat, wachsen Kiefern. Sie wachsen in unnatürlich regelmäßigen Formationen und erinnern an eine schlecht gemachte Perücke. Ich schließe mich in der Hütte ein, zünde die Lampe an, gehe zum Ofen und lege Buchenscheite nach. Ich verstaue die Lebensmittel im kleinen Kühlschrank und in der alten Kommode in der Ecke. Ich bereite mich darauf vor, weiter über die Ereignisse in Oslo zu schreiben, aber ich zögere noch. Anstatt in die Vergangenheit, nach Oslo, irren meine Gedanken ab in Richtung Dorf, in Richtung der grauen, wässrigen und traurig kalten Augen der jungen Verkäuferin. Solche Augen habe ich einmal gekannt. Augen, die um Hilfe flehten, sie aber verschmähten, wenn du dieser Aufforderung nachkamst. Das waren die Augen meiner Ex. Das waren die Augen von Cathrines Tochter. Augen, die ich geliebt habe, die mich verrückt gemacht haben, die unbarmherzig die Stimmen in meinem Kopf angefacht und meine namenlose Krankheit geweckt haben. Augen, die ich öffnete und schloss, küsste und missachtete. Augen, die mich in Großvaters Hütte trieben, auf öde Inseln, in die Einsamkeit.

      Ich hatte nicht viel mit der Verkäuferin gesprochen. Nicht mehr, als notwendig. Ich kannte ihren Namen nicht. Sie hätte doch nur gefragt, ob ich noch etwas brauche. Ich hätte scheinbar überlegt und mich an etwas erinnert, und sie hätte es aus einer Ecke hervorgezogen oder von einem Regal genommen. Dann hätte sie mich für einige Augenblicke angesehen, und bei mir hätte sich etwas in der Nasenwurzel gesammelt, ein Druck, und ich wäre fast zersprungen. Dabei wäre sie mir unendlich unglücklich und einsam erschienen. Dann hätte ich ihr etwas sagen wollen, etwas, was unser beider Leben verändert hätte. Ich hätte sie von dort entführen wollen, hinter dem Pult hervorholen, aus diesem Dorf heraus, ich hätte sie vor der ihr beschiedenen Welt retten wollen. Und sie hätte das, so hätte es mir in diesen wenigen Augenblicken geschienen, begriffen. Sie hätte mich spöttisch angesehen und gesagt: Und ist das alles?

       2.

      In Oslo ist es kein Problem, eine Arbeit zu finden, wenn du nicht wählerisch bist. Mir war es völlig egal, was ich machen würde. Ich wollte nur dem Sitzen am Fenster entkommen, dem Auf-die-Straße-Starren, der Abstumpfung, die mich in eine unbewegliche Larve verwandelte. Als Student hatte ich eine Menge unterschiedlichster Arbeiten angenommen. Ich war Bäcker, Briefträger, Verkäufer, Seemann, Fischer, Kellner, Bauarbeiter und noch manches, bei dem ich mir nicht sicher bin, wie ich es nennen soll. Am schwersten war es, als „bauštelac“ zu arbeiten, aber damals war ich auch am glücklichsten. Du arbeitest den ganzen finsteren Wintertag auf dem Gerüst bei minus zwanzig Grad. Du schleppst Gipsplatten und nagelst Kiefernbretter an. Du kommst müde, ausgehungert und durchgefroren nach Hause, duschst, isst wie ein hungriges und erschöpftes Tier und schläfst ein ohne Haschisch oder Valium.

      Eine Zeit lang habe ich auch als Verkäufer im 7-Eleven gearbeitet. Eines Nachmittags kamen zwei Typen mit einer Schrotflinte in den Laden gestürmt und raubten etwa zweitausend Kronen. Das war an meinem freien Tag. Das Mädchen, das da arbeitete und auf das sie die doppelläufige Flinte gerichtet hatten, musste in psychiatrische Behandlung, weil sie deshalb ein Trauma bekommen hatte. Danach hörte sie ganz auf zu arbeiten, weil sie sich sofort wieder an alles erinnerte, sobald sie den Laden betrat und die verbrannten Würste und alten Pizzastücke roch, die sich in dem Glaskäfig den lieben langen Tag drehen. Das Mädchen stammte aus Brasilien und hatte mir ein paar Sätze Portugiesisch beigebracht, die sich als sehr nützlich erwiesen, als ich später dort war.

      Dieses Mal verdingte ich mich als Briefträger. Das hatte ich schon einen Sommer während der Ferien gemacht, noch als Student. Jetzt hatte ich eine Anzeige in der Zeitung gelesen, dass sie wieder Briefträger suchten, befristet, weil bald Weihnachten war, und dass es möglich sei, den Vertrag über das befristete Arbeitsverhältnis hinaus zu verlängern. Ich ging direkt in die Sentralpost und fragte den Schichtleiter. Wir unterhielten uns ein bisschen, und als er hörte, dass ich schon Erfahrung habe, Norwegisch spreche und Zahlen und Buchstaben anständig lesen kann, gab es kein Problem. Ich unterschrieb den Vertrag gleich für sechs Monate. Anlernzeit zwei Wochen, Bezahlung nach Tarif. Am Montag darauf sollte ich anfangen, die erste Woche noch im Gespann mit einem erfahrenen Briefträger, der mir meine Route zeigen sollte. Ich ging zufrieden nach Hause.

       3.

      Die Stelle als Briefträger war eine der besseren, die ich gehabt habe. Mir war nicht so malerisch zumute wie bei Bukowski, aber es war gut, weil du die meiste Zeit allein bist. Niemand kontrolliert dich, du kontrollierst niemand. Du kommst gegen halb sechs Uhr morgens in die Sentralpost. Dort wartet auf dich schon ein Haufen Briefe, Ansichtskarten, Reklamezettel, dieses oder jenes Paket, amtliche Umschläge im A4-Format, mittwochs und freitags die Gratiszeitung Osloposten.

      Du sortierst die Sendungen, legst sie in Fächer, nach Straßen, Hauseingängen, Hofeinfahrten, Stockwerken, Wohnungen, Büros. Das dauert bis acht, spätestens bis halb neun. Dann gehst du los und hast die ganze Post spätestens bis halb zwei zu verteilen. Meine Route lag im Zentrum von Oslo, sie umfasste mehrere Straßen, sechshundert Haushalte, an die dreißig Firmen und Geschäfte, eine Kirche und ein Hospiz beziehungsweise eine Pension für Drogenabhängige. Der Typ, der mir zwei Wochen lang den Job beibringen sollte, hatte auf dieser Route zwanzig Jahre gearbeitet. Bald würde er aufhören, Post auszutragen, denn er war schon zu alt, um so große Taschen zu schleppen und dazu noch den Wagen durch den Schnee zu schieben. Er würde in die Postkontrolle wechseln und dort auf seine Pension warten. Den ersten Tag, den ich mit ihm ging, lief alles wie geschmiert. Er arbeitete und erklärte, und ich nickte.

      Am zweiten Tag erschien er nicht zur Arbeit. Er hatte sich krank gemeldet. Ich fing an, die Postsendungen zu sortieren. Das ist leicht, wenn du ein und dieselbe Route zwanzig Jahre gehst und alles auswendig weißt. Wenn du es nicht weißt, musst du ein Notizbuch zu Hilfe nehmen, in das alle Personen und alle Adressen eingetragen werden, wenn jemand zuzieht oder wegzieht, stirbt oder geboren wird. Der Typ, der mich in die Arbeit einführen sollte, hatte in dieses Notizbuch in den letzten zehn Jahren keinen einzigen Buchstaben eingetragen. Ich kehrte von der Auslieferung um fünf Uhr nachmittags zurück. Die Hälfte der Sendungen hatte ich nicht ausgeliefert, weil ich den Empfänger nicht gefunden hatte.

      Als ich zur Sentralpost zurückkam, war nur noch der Portier da. Er sah mich, schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. Er war gut fünfzig Jahre alt und hatte eine Rockabilly-Frisur, die er trug, seit Elvis aus dem Leim gegangen war. Die Glatze auf dem Hinterkopf war so augenscheinlich, dass man sie auch von vorne sah. Er fragte mich, ob ich ein Problem mit dem Lesen hätte, wenn ich so langsam sei.

      Ich sagte, dass ich keines hätte. Er zeigte mir, wo ich die Briefe lassen solle, für die ich keinen Empfänger gefunden hatte. Ich musste sie auseinandersortieren.

      Als ich nach Hause kam, machte ich mir etwas zu essen, und nachdem ich gegessen hatte, dachte ich, dass ich mir jetzt gern einen Joint anstecken würde.

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