Mörderische Schifffahrt. Charlie Meyer
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Читать онлайн книгу Mörderische Schifffahrt - Charlie Meyer страница 28
»Ach du lieber ... Entschuldigung.« Fred konnte sich gerade noch bremsen. Wortloses Gesumme war für ihn das, was für andere Popcornessen im Kino war. Nur schwer erträglich, er wusste selbst nicht warum, aber wenn er das Gesumme durch eine sorgfältigere Wortwahl unterbinden konnte, würde er dies ganz einfach tun. Es war sein Kopf, der die Sätze zusammenstellte, seine Stimmbänder, die sie in Ton setzten und seine Lippen, die sie aussprachen. Also alles unter Kontrolle.
»Okay«, sagte er forsch. Ihm gefiel Patrizias direkte Art, vor allem der offene Blick ihrer Augen. Ein wohltuender Gegensatz zu Mellie, die ihre Pupillen ständig in Bewegung hielt, um ja nicht einen von ihnen anblicken zu müssen. Duckmäuserart. Brüll sie an und sie brechen heulend auf deinen Füßen zusammen. Patrizia Müller würde zurückbrüllen, genauso wie Alice, und auch, wenn er seine Großcousine ansonsten nicht ausstehen konnte, dieser Charakterzug gefiel ihm an ihr.
»Also hatte er keine Feinde«, nahm er den Faden wieder auf.
»Er war der Rattenfänger«, konterte die Klientin.
»Er war nicht der Rattenfänger, sondern ein Rattenfänger. Einer von mehreren. Ich weiß nicht, wie sich die Rattenfänger-Kandidaten bei der Stadt beworben haben, aber wenn es eine Art Assessment-Center, also eine Auswahl aus, sagen wir mal, zwanzig Kandidaten gegeben hat, vielleicht sogar über zwei oder drei Tage mit Rollenspielen und so einem Quatsch, könnte er sich durchaus Feinde unter den anderen Aspiranten gemacht haben.« Mellies Stimme klang kühl, rein geschäftsmäßig. Einer Agnostikerin gegenüberzusitzen, gefiel ihr nicht besonders, zumal sie die abwertenden Blicke bemerkte, mit der diese Agnostikerin sie musterte. Nur nannte sie neben ihrem Glauben auch noch einen analytischen Verstand ihr eigen, und der sagte ihr klipp und klar: Keine Feinde zu haben, ist nicht das logische Resultat von der Rattenfänger zu sein. »Vielleicht«, fuhr sie fort, »hat er sich auch durch seine Art bei den etablierten Rattenfängern Feinde gemacht. Hatte er ein übersteigertes Ego, war er arrogant, schwärzte er seine Kollegen in der Chefetage an?«
»Also, das ist doch ...«, Patrizia Müller gingen die Worte aus.
»Melanie!«
»Entschuldige mal, Chef, aber diese Fragen müssen in jeder Morduntersuchung zwingend geklärt werden. Sie dürfen keinesfalls als Tabuthema gelten. Herr ... äh ... der Aushilfsrattenfänger ist nicht einfach so gestorben, er hatte ein Messer im Nacken und seine Unterarme waren ihm abgerissen, da darf ich doch wohl …«
Patrizia Müller brach in ein lautes Schluchzen aus.
»... wenigstens die grundlegenden Fragen stellen, was das Motiv für die Tat anbelangt.«
»Wie wäre es mit ein bisschen mehr Diplomatie«, brüllte Fred genervt, und Melanie brach nun ebenfalls in Tränen aus.
Als die Befragung weitergehen konnte, schniefte die Frau neben ihm im Gleichtakt mit der Frau ihm gegenüber, aber Fred schien, als hätte sein kurzes Gebrüll die Atmosphäre gereinigt.
»Was für ein Mensch war Dickie Blume? Erzählen Sie uns von ihm.«
»Er war ... ein liebenswerter Mensch. Nicht gerade ordentlich, aber auch nicht ausschließlich schlampig, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er wollte Musiker werden, Klarinettist, auch wenn er ... na ja, wenn er für meinen Geschmack wenig geübt hat. Eigentlich fast nie. Er hatte Ziele: die Berliner Symphoniker oder andere weltberühmte Orchester.« Sie kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr. Ihr Gesicht war vom Weinen rotfleckig. Sie trug schwarz. Bluse, Rock, Spitzenstrumpfhosen. »Seine Eltern wanderten nach Australien aus, als er fünf war, und ließen ihn bei einer Tante zurück, aber das habe ich Ihnen ja schon erzählt. Soweit ich weiß, hatte er nie wieder Kontakt zu ihnen. Ich weiß nicht mal, ob sie zur Beerdigung kommen. Ich weiß nicht mal, wann die Beerdigung stattfindet.«
Ihre Augen flossen erneut über, und Fred schob ihr stumm die angebrochene Packung Kleenex über den Tisch.
»Danke.« Sie brauchte zwei Minuten, bevor sie weiterreden konnte. »Wir haben uns im letzten Herbst kennengelernt, als ich bei Pik-As meine erste eigene Gruppe übernahm.«
»Pik-As?«, fragte Mellie und warf einen raschen Blick zu Fred. Brüllte er gleich wieder, nur weil sie versuchte, hilfreich zu sein? »Ich nehme an, Sie sprechen von einer Selbsthilfegruppe für Spielsüchtige?«
»Ja, das stimmt«, Patrizia Müller starrte sie einen Moment lang verblüfft an. »Sollten wir uns kennen? Waren Sie in einer der Gruppen?«
»Eine reine Frage der Logik. Pik-As ist eine Spielkarte, eine Gruppe ist eine Gruppe, und wenn sie Poker oder andere Spiele spielen würde, hieße sie nicht Gruppe, sondern Pokerrunde oder Spielekreis. So ähnlich jedenfalls. Gruppe assoziiert Selbsthilfe, und Selbsthilfe benötigen Menschen, die etwas im Übermaß tun, was sich negativ auf ihre Psyche und ihren Geldbeutel auswirkt. Ergo ist Pik-As eine Institution, die Spielsüchtigen eine Anlaufstelle bietet und sie in etwas wie eine Therapiegruppe integriert.«
Über lange Sekunden blieb es totenstill am Tisch. Niemand redete, niemand schniefte, aber alle, außer Mellie selbst natürlich, staunten.
»Wow«, richtete Patrizia Müller nach einer Weile das Wort an Fred. »Sie ist echt gut. Wenn ich ehrlich bin, dachte ich in der letzten halben Stunde, ich bin ... na ja, wie soll ich es ausdrücken ... nicht eben an Profis geraten, wenn Sie verstehen, was ich meine. Denn sehen Sie, eigentlich habe ich mich hauptsächlich deshalb an Sie gewendet, weil eine Ihrer Mitarbeiterinnen meinen Dickie ...«, sie schluckte und griff nach einem Kleenex »... aus dem Wasser gezogen hat. Die Polizei hat mir die Visitenkarte gezeigt, die sie vor Ort verloren hat und da ... Das ist ein Wink des Schicksals, dachte ich, und eine Frau, die einen Toten ganz allein aus der Weser zieht, ist mutig. Ich meine, es erfordert doch jede Menge Zivilcourage, eine Leiche aus dem Wasser zu ziehen. Ich hörte auch, sie habe sich dabei verletzt, aber partout nicht ins Krankenhaus gewollt. Das ist die richtige Frau für den Job, dachte ich und rief bei Ihnen an. Unser Telefonat dann war ... na ja ... nicht gerade ermutigend, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich wurde in meiner Überzeugung schwankend, tatsächlich an der richtigen Adresse zu sein. Aber diese Kette logischer Schlussfolgerungen eben, also die überzeugt mich restlos. Außerdem sind Sie billiger als Ihre Konkurrenten«, fügte sie mit dem Anflug eines Lächelns hinzu. »Ich meine, ich hab’ nicht so viel Erspartes, und Dickie ... na ja, Sie können sich sicher denken, was ein Spielsüchtiger auf der hohen Kante hat.«
Toll, dachte Fred Roderich deprimiert. Deine Mitarbeiterinnen werden in den grünen Klee gelobt und du als Chef gehst als nicht unbedingt profimäßig mit durch. Er vernahm mit einem Mal ein zweistimmiges Raunen tief in seinem Inneren, und als er genauer hinhorchte, hörte es sich an wie eine Unterhaltung zwischen Herrn Neid und Herrn Ehrgeiz. Bloß nicht, dachte er entsetzt. Du wolltest diesen Mord nicht, und wenn deine Mitarbeiterinnen so großartig sind, bitte schön, sollen sie ihn aufklären. Du bist der Chef, du delegierst die Arbeit, und Chefs dürfen den Ruhm genießen, ohne sich die Pfoten schmutzig zu machen.
Stimmt.