DAS OPFER. Michael Stuhr
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„Habt ihr euch gezankt?“, wollte Biggy wissen.
„Blödsinn!“, wehrte Diego ab. „Nicht die Spur. – Ich geh sie jetzt suchen.“
„Ja, mach das!“, stimmte Biggy zu. „Hercule und ich fahren derweil zum International House. Vielleicht ist sie ja schon dort.“ Entschlossen nahm sie den verdutzt dastehenden Hercule bei der Hand und zog ihn in Richtung Ausgang.
‚Super, diese Frau!’, stellte Diego still für sich fest. Wenn sie auch manchmal einen etwas verpeilten Eindruck machte: wenn es darauf ankam, wusste sie genau, was zu tun war. Ohne noch eine Minute zu verlieren machte er sich daran, die Gänge des Greek-Theatre nach Lana abzusuchen.
Nach einer Odyssee durch die Restrooms war es Diego klar, dass Lana sich nicht mehr hier aufhielt. Fast war er dankbar dafür, dass er bei seiner Suche auf Alicia stieß, die es für ihn übernahm, tiefer in die für Frauen reservierten Räume hinein zu gehen. Bevor er den braven amerikanischen Girls einen Schock fürs Leben verpasste, weil er plötzlich in der Damentoilette auftauchte, ertrug er schon lieber das anzügliche Grinsen seiner Helferin.
„Tja, nirgends zu finden“, stellte Alicia schließlich fest. „Hat sich wohl schon verdrückt.“
„Nett, dass du mir geholfen hast“, bedankte Diego sich und versuchte zum x-ten Mal, Lana über Handy zu erreichen. – Wieder keine Verbindung.
„Gehen wir“, meinte Alicia gleichmütig. „Sie ist weg, sieh es ein.“
„Ja, gehen wir!“ Etwas zu spät fiel es Diego auf, dass er gerade an Alicias Seite vom Gelände ging. So war das von seiner Seite aus nicht geplant gewesen, aber wenn Lana es nicht nötig hatte, ihm Bescheid zu sagen, wenn sie ging ...
Auf dem Parkplatz stoppte Alicia und sah ihm ins Gesicht. „Ciao Diego“, sagte sie im Ton größter Aufrichtigkeit, „tut mir Leid, dass sie einfach so abgehauen ist. Ich fahr dann auch mal nach Hause.“
„Ja, danke noch mal.“ Nachdenklich sah Diego ihr nach. - Eigentlich war diese Alicia doch ganz in Ordnung. Unwillig steckte er das Handy ein, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte.
So langsam ärgerte es Diego, dass Lana nicht zu erreichen war. Eigentlich hatte er ja vorgehabt, zum International-House zu fahren, um nachzusehen, ob sie inzwischen dort war, aber als das Handy klingelte und Hercule sich meldete, erfuhr er, dass sie dort auch nicht angekommen war. „Dann lass sie“, teilte er dem verdutzten Hercule mit „Sie ist schließlich alt genug und muss wissen was sie tut.“ Damit beendete er das Gespräch, stieg in seinen Wagen und fuhr zum Wohnheim.
In seinem Zimmer angekommen war die leichte Verärgerung über Lana immer noch nicht verflogen. Angezogen legte Diego sich auf sein Bett und wartete darauf, dass sie ihn endlich anrief. Immer wieder drängte sich Alicias Lied in seine Gedanken, und ihr Bild tauchte vor seinem inneren Auge auf. – Eigentlich hatte sie sich heute doch als ganz gute Freundin erwiesen.
02 STERNENNACHT
Was habe ich getan?
Diego weiß gar nicht, wo ich bin, er wird mich suchen im Greek-Theatre! Mein Handy liegt zerschmettert am Straßenrand! Er kann mich nicht erreichen! Warum fühle ich mich so merkwürdig gut dabei? Warum? Es ist wie ein Gefühl von süßer Rache: Soll er sich doch auch mal Sorgen machen, so wie er mir mitgespielt hat. Soll er doch, dann weiß er mal, wie das ist, wenn man ...
Ich fange wieder an zu zittern. Er weiß doch gar nicht, was ich weiß. – Egal! – Ich schließe die Augen und sehe Bilder - Bilder der vergangenen Nacht.
Ich sehe Lou, wie sie langsam nach vorne kippt. Schon ist ihr Schwerpunkt jenseits des Geländers. Sie rutscht ab. – Panik - Lou soll nicht sterben. - Meine Hand an ihrem Hosenbund. - Sie rutscht! - Endlose Sekunden - Mein halber Oberkörper ragt über das Geländer. Unter mir hängt Lou hoch über dem schwarzen Wasser der Bay, nur gehalten von meiner rechten Hand.
Später: Die blinkenden Lichter des Streifenwagens. - Der Cop, der uns mit seiner Taschenlampe anleuchtet. - Und über all dem das ruhige, warme, unwirkliche Weihnachtsbaumlicht der Golden Gate Bridge.
Lous Geständnis: „Ich kenne Alicia. Sie hat keine Seele! ... Ich war mal mit ihr zusammen. Sie hat mich ausgenutzt. Sie hat mir vorgespielt, dass sie mich liebt, und ich habe es geglaubt.“ - Ihr bitteres, verzweifeltes Lachen.
Die Fahrt zu Lou: Ich rieche nach meinem eigenen Erbrochenen und komme mir so zerfleddert vor, wie ein alter, stinkender Putzlumpen. Gleichzeitig spüre ich die warmen Gedanken von Lou neben mir. Im Radio läuft „It’s my life“. - Die Dunkelheit, die uns umschließt wie ein schützender Mantel, als wir endlich Lous Haus erreichen. - Das harmlose Gezirpe der Grillen in der duftenden, warmen Nacht, das mich an Port Grimaud erinnert und an die unbeschwerten Tage dort, bevor so viel Schreckliches passiert ist.
„So, deine Sachen sind in der Waschmaschine“, sagt Lou als sie hereinkommt.
„Danke“, bringe ich mit leiser Stimme heraus. Über Marisas flauschigen rosa Bademantel habe ich mir noch eine dicke Decke gezogen. Meine Haare sind feucht von der heißen Dusche. Mit angezogenen Knien sitze ich auf dem Boden an die Couch gelehnt. In die Decke gekuschelt schaue ich wie hypnotisiert auf die Flammen im Kamin.
Ich sitze in Lous Wohnzimmer und versuche, die Bilder der Nacht loszuwerden. Meine Füße stecken in dicken Socken, aber ich werde nicht warm. Immer wieder überlaufen mich eisige Schauer, die mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper jagen.
Lou reicht mir einen Becher Tee und setzt sich zu mir auf den Boden.
Das ganze wirkt so alltäglich, so schön, dass ich fast schon versucht bin, hysterisch aufzulachen. Woher nimmt sie die Kraft, so zu handeln, so - normal? Ich muss den Becher, den sie mir reicht, mit beiden Händen entgegen nehmen, um nichts zu verschütten, so sehr zittern meine Hände, so sehr bebt mein ganzer Körper.
Aufmerksam schaut Lou mich an. „Frierst du immer noch?“
Ich presse die Zähne aufeinander, um ein Klappern zu verhindern und nicke stumm. Mein ganzer Körper steht unter einer solchen Anspannung, dass sich kein einziger Muskel entkrampfen will.
„Das ist kein wirkliches Frieren“, stellt Lou fest. „Das ist der ganze Druck, die ganze Anspannung, die jetzt bei dir rauskommt. Trink mal was von dem Tee. Ich hab dir ein bisschen Wodka dazu gekippt, das soll bei euch ja helfen.“
Erstaunt schaue ich sie an.
„Nun guck nicht so, der ist nicht von mir, den hat Alicia hier gelassen – damals. Sie brauchte so was immer, vielleicht konnte sie mich anders nicht aushalten.“ Lou dreht den Kopf zur Seite und seufzt leise. Ich lege ihr kurz meine Hand auf den Arm. Schweigend sitzen wir dicht nebeneinander, schauen ins Feuer und trinken unseren Tee.
Merkwürdig, wie sich bestimmte Situationen wiederholen: Noch nicht mal ein halbes Jahr ist es her, da saß ich auch vor einem Kaminfeuer, eine Tasse Tee mit Rum in der Hand und Bea neben mir. Wir hockten im Wohnzimmer von Tante Claire und hatten keine Ahnung, was für unheimliche Erlebnisse uns in Saint Malo erwarten sollten.
Nun sitzt Lou neben mir. Wir beide haben die wohl schlimmste Nacht unseres Lebens hinter uns.
Dennoch,