das goldene Haus. Sabina Ritterbach
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"Arme Kinder", kommt es vom Nebensitz, und wir müssen beide lachen. Das ist mein Satz, den ich auszusprechen pflege, sobald wir diese uniformierten Kids sehen. Ich erzähle ihm von einem kleinen Jungen, der öfter zum Lehrerpult gebeten wurde, damit die ganze Klasse seine abenteuerliche Garderobe begutachten konnte. Er liebte karierte Hosen im Winter, und im Sommer trug er Jeans mit Herz- und Wolkenmustern. Er bastelte gern an seiner Kleidung herum, setzte Reißverschlüsse ein, nähte dekorative Flicken übereinander und trug die alten Stiefel von Sonja auf.
"Ach, das war Stefan?"
"Ja, aber es ist alles fort, irgendwann hat er damit aufgehört, ich hab‘s erst gar nicht bemerkt, als er anfing seriös zu werden."
"Eigentlich schade", meint er. Ich nicke, sehe auf seine zerschlissenen Jeans und den zu kleinen geringelten Pullunder, den er trägt.
"Deine Anziehsachen scheinen auch noch aus dieser Zeit zu stammen", lache ich. Er grinst.
"Nein, die sind älter."
Einen recht wohlhabenden Eindruck machen die Orte, die wir durchfahren. Die Straßen sind in einem sehr guten Zustand, und jede Menge ordentlicher Autos sind unterwegs. Große Bungalows stehen schmucklos und repräsentativ auf den Rasenflächen, davor asphaltierte Autoauffahrten, nur wenig schmaler als Flugzeuglandebahnen. Ja, die Engländer lassen sich ihr Irland etwas kosten. Hier wird viel Geld hineingepumpt.
"Mist", sagt er und gleichzeitig knackt wieder der Scheibenwischer. Aber wir sind zügig vorwärtsgekommen. "Ich komme so gern im Trockenen nach Hause". Im Trockenen nach Hause. Wenn es damals vor zehn Jahren trocken gewesen wäre, hätte ich ihn nie kennengelernt.
Wie ein verwirrtes Huhn sauste ich damals in der Gegend herum, so, als suchte ich etwas. Ich glaube, ich suchte einen Platz, wo ich solange friedlich bleiben konnte, bis ich mich traute, über alles nachzudenken, über alles, was in dem letzten halben Jahr geschehen war. Ich musste über meine Zukunft nachdenken. Ich suchte also einen Platz, wo ich im wahrsten Sinne des Wortes zu mir kommen konnte. Mein ganzes Leben und besonders diese letzten Monate waren mit Aktivitäten vollgestopft gewesen. Man ließ mir keine Wahl, es musste so vieles geordnet und bewältigt werden. Der Tränenausbruch, der mich vor einigen Tagen überrascht hatte, zeigte mir, dass ich nicht nur körperlich, sondern auch seelisch ziemlich am Ende war.
Ich machte Rast in einem Pub, saß auf einem Plastiksofa, vor mir der typisch winzige Tisch, trank Tee und aß ein Käsesandwich. Ein Paar betrat den Pub, setzte sich an die Bar und bestellte Bier. Sie unterhielten sich, und erst nach einer Weile wurde ich gewahr, dass es Deutsche waren. Neugierig hörte ich etwas genauer hin, und auf einmal hörte ich den Satz: "In Donegal gab es die wenigsten Touristen."
Dieser Satz setzte sich sofort in meinem Gehirn fest. Ich kaute auf meinem Brot herum, und meine Phantasie begann zu arbeiten. Sie flog über ein leeres weites Land, über Wiesen und Felder, Moore und Klippen, ich sah weiße Strände und das Meer. Ich hatte ein Ziel.
Auch unser Ziel ist nur noch eine Stunde entfernt, der englische Teil liegt hinter uns. Wir stehen an der Grenze, und Augenblicke später in Donegal. Das erste Mal auf dieser langen Fahrt berührt er meine Hand, biegen seine Finger meine Fingerspitzen leicht nach oben. Rasch bedecke ich seine Hand mit der meinen, so lange, bis er in den vierten Gang schalten muss.
"Ich will mir das erhalten, ich brauche das", geht es mir durch den Kopf. "Was mache ich nur, wenn ich ihn nie wieder spüren kann?"
Unser leichtes Gefährt donnert in die ersten Schlaglöcher, das könnte ihm den Garaus machen, die Achse brechen. Fort war der Regen, und die Sonne steht tief und blendet fürchterlich. Die Fahrt wird zum Blindflug.
"Wir brauchen etwas zu essen", sagt er, und Minuten später trotte ich im Supermarkt hinter ihm her. Laute Weihnachtsmusik, Sterne, Kugeln, falsches Tannengrün, Krippen, das ist ein Schock. Betäubt lasse ich mich von ihm von einem Regal zum anderen scheuchen.
"Holt dies, bring das, stell Dich schon mal an der Kasse an!" Er erledigt das meiste. Ich bin ihm dankbar, ich hasse Supermärkte.
Seit zwei Jahren habe ich nicht mehr viel einzukaufen, nur noch fürs Wochenende, und auch das wird seltener. Die Kinder sind aus dem Haus, und immer öfter bekomme ich Anrufe wie: "Wir fahren nach Holland surfen", oder "Wir gehen zu einer Geburtstagsparty."
Sie haben auch sehr viel für ihr Studium zu arbeiten, oft habe ich das Gefühl das lustige Studentenleben ist nur eine Legende. Sie fehlen mir. Manchmal bin ich ein wenig einsam, aber ich will nicht klagen, ich habe noch viel, ich liebe meine Arbeit, die brauche ich wie die Luft. Seit wir in die Jahre gekommen sind, habe ich noch engeren Kontakt zu meinen Schwestern, und natürlich gibt es Freunde, wenige, und Kollegen, und es gibt diesen Mann neben mir.
"Schau den Himmel", sagt er, und ich bin entzückt.
"Oh diese Farben", rufe ich, "sieh dieses Violett neben dem Gelb, und das Rosa neben dem Türkis".
"Hört, die Malerin spricht, als würde sie Farblehre geben", dämpft er meine Begeisterung. "Ja", und nun die Romantikerin, "oh du holder Abendstern, sieh dort die Venus und die Mondsichel."
Es wird nun sehr schnell dunkel, und die einmaligen Ausblicke von Hügeln, Bächen und dem großen Moorgebiet ahne ich nur noch mit dem Herzen. Alles werde ich stumm begrüßen, ich werde den EIfen und dem Geisterstein zunicken. Ich werde die Geister bitten, mich ein wenig glücklich sein zu lassen. Ich sitze da und warte, ich warte auf den Satz, der gleich kommen muss. Zwei Kurven will ich ihm noch Zeit geben, sonst sag ich ihn, ich lege noch eine Kurve dazu, und dann sagen wir den Satz als perfektes Duo: "Hab‘ ich es nicht gesagt, die Fahrt verging wie im Flug", und dabei lachen wir und lachen und freuen uns.
"Ein paar Tage Ruhe, und Du wirst sehen, ich werde mich erholen, ich werde hier wieder mein Lachen finden, es muss hier irgendwo begraben sein", sagt er.
Auch ich habe hier mein Lachen wiedergefunden. Das Lachen, das mir ganz persönlich gehört. Nicht das Lachen mit den Kindern, ich wollte, dass sie fröhlich sind, ich wollte ihnen Sicherheit geben. Ich lachte und sang, als ich unsere neue Wohnung einrichtete, sie sollten unser schönes Haus vergessen. Wir hatten Spaß auf der ersten richtigen Party zu Sonjas Geburtstag, sie wurde vierzehn, wir hatten Spaß, und ich lachte. Was machte es schon aus, dass Vati keine Zeit hatte, es machte uns gar nichts. Mein Lachen war fort, und ich wusste nicht, ja wie sollte ich denn auch wissen, dass es in Donegal begraben war.
"Donegal", dieses Wort summte mir im Kopf, seit es die deutschen Touristen ausgesprochen hatten. Ich sprach es laut aus, ich flüsterte es und fuhr nordwärts. Eigentlich wollte ich zur Küste durchstarten, bog aber von der Hauptstraße ab und landete ganz plötzlich im Moor. Es traf mich ohne Vorbereitung. Ich starrte gebannt durch die Windschutzscheibe, und wie in Trance verließ ich den Wagen. Eine überwältigende braunrote Landschaft breitete sich vor mir aus. Die dicken weißen Wolken, die über den Himmel jagten, sorgten für ein fast dramatisches Licht- und Schattenspiel. Die Landschaft war dramatisch in ihrer Weite und totalen öde. Das wars, dafür war ich hergekommen. Ich war glücklich, dass ich das sehen durfte. Lange stand ich dort, und dann setzte ich mich ins Auto und fuhr mitten hinein in dies vielfarbige Braun. Ich fuhr sehr langsam, und dies verstärkte noch das