Sonnenwarm und Regensanft - Band 1. Agnes M. Holdborg
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Ein Besucher
»Gut, hhm … Ja, ja, okay. … Ja, du auch. Ruf mich bitte bald wieder an, hörst du? Ja. … Ich weiß, Viktoria. Mach’s gut. … Und hey – Danke.«
Mit einem schweren Seufzer legte Viktor sein Handy beiseite. Er stand allein in dem großen Haus, tief versunken in trüben Gedanken.
»Zwei Tage sind sie nun schon fort«, überlegte er. »Viktoria ist erstaunlich. Sie hat es tatsächlich geschafft, schon auf der Überfahrt Kontakt zu Anna und Jens aufzunehmen. Sie wohnt sogar bei ihnen. Wirklich erstaunlich. Sie hat eindeutig die besseren emphatischen Fähigkeiten von uns beiden. So schnell wie sie schaffe ich es niemals, die Gefühle anderer zu ergründen und sogar zu beeinflussen, ohne sie dabei zu berühren. Es ist gut, dass sie bei Anna ist.«
Trotzdem gelang es ihm nicht, sich zu beruhigen, dazu vermisste er Anna viel zu sehr – ihre Wärme, ihre Küsse, ihre Haut. Alles in ihm verzehrte sich nach ihr. Sein Wunsch, sie zu berühren, wurde von Tag zu Tag stärker.
Er war schon mit einigen Elfenmädchen zusammen gewesen, doch keines hatte ihn so erregt und um den Verstand gebracht wie Anna. In dieser Hinsicht gab er wohl mehr einen Elfen als Menschen ab. Liebe und Lust waren bei den Elfen tief miteinander verwurzelt. Umso schwerer fand er es, keinerlei Kontakt zu Anna aufnehmen zu dürfen.
Außerdem hielt sich ja sein Vater nicht weit entfernt von ihr auf, jedenfalls für Elfenverhältnisse. Viktor wusste, dass Vitus über Fähigkeiten verfügte, die weit über die seiner Kinder hinausgingen. Vitus konnte die Emotionen anderer nicht nur über große Distanzen erspüren, sondern sie auch rasend schnell ergründen, die Zusammenhänge erfassen, auch wenn sie noch so komplex waren. Zudem besaß er enorme Kraft, nicht nur physisch. Wenn er es wollte, reichte ihm ein kurzer Blick, um einen Widersacher in die Knie zu zwingen oder in die Flucht zu schlagen. Sein bloßer Wille brachte selbst die Sonne dazu, sich zu verdunkeln, und Meer und Wind, sich in einer totbringenden Springflut aufs Land zu stürzen.
Zwar hatte Vitus so etwas Zerstörerisches niemals getan, doch besaß er durchaus die Macht dazu.
Estra, Viktors Onkel, hatte ihm davon berichtet, dass Veronikas Tod Vitus Tag für Tag ein Stückchen instabiler machte. Estra befürchtete, dass eines Tages etwas Schlimmes aus Vitus herausbrechen könnte, so unberechenbar wäre er geworden.
Viktor kannte seinen Vater kaum. Vitus hatte die Zwillinge höchstens ein- bis zweimal im Jahr besucht und selbst dann nur wenig mit ihnen gesprochen.
Besonders ihn bedachte sein Vater stets mit merkwürdigen, undurchdringlichen Blicken, die ihn jedes Mal ein wenig mehr verunsicherten. Denn Vitus’ Talent, sich selbst vollkommen vor den empathischen und telepathischen Verbindungen der anderen zu verschließen, gab Viktor ständig Rätsel auf. Er meinte, von seinem Vater kritische, fast schon böse Blicke zu ernten, irgendwie voller Hass. Die Erinnerung daran erfüllte Viktor mit Schmerz.
Trotzdem hatte es den Geschwistern nie an etwas gefehlt. In den Bergen, bei Estra und Isinis, hatten sie immens viel Wärme und Liebe erfahren und zudem gelernt, diese weiterzugeben.
Es hatte die Zieheltern nie gestört, dass Viktoria und er nur halbe Elfen waren. Sie brachten ihnen bei, was sie von den Menschen wussten, und halfen ihnen außerdem, ihre elfenhaften Eigenschaften zu erkennen, zu verfeinern und anzuwenden.
Alle miteinander freuten sich stets wie kleine Kinder, wenn den Zwillingen wieder etwas Besonderes gelungen war. Vor allem Viktors Gabe, die Sonne zu holen und damit die Seelen anderer zu wärmen, fand großen Anklang. Genau wie Viktorias intensives Gefühlsverständnis und die Art, mit der sie ihr Umfeld gern positiv beeinflusste.
Estra und Isinis waren ganz offenbar glücklich darüber, sich um den Neffen und die Nichte kümmern zu dürfen.
Laut den Erzählungen seines Onkels hatte der sich seinerzeit überaus gut mit Vitus verstanden. Lächelnd hatte Estra dabei erwähnt, dass der ältere Bruder früher ein ziemlicher Draufgänger gewesen wäre. So einer von der stürmischen Sorte, der sich gern, ohne groß zu überlegen, in ein Abenteuer stürzte. Er wäre lustig, lebensfroh und liebevoll gewesen, trotz seines ungestümen Temperamentes. Niemals hätte er jemandem schaden wollen.
Ein anderes Mal hatte Estra ihm etwas mehr erzählt. Viktor hatte die Worte seines Onkels noch im Ohr:
… »Seine unbesonnene Art führte ihn zu Veronika. Er sah sie und wollte sie, egal was und wer sie war. Das führte damals zum Eklat, denn er war bereits einer anderen Frau versprochen, einer Elfenprinzessin aus dem Süden namens Kana. Doch das kümmerte ihn nicht. Vitus bevorzugte seine geliebte Menschenfrau.
Kanas Eltern waren darüber sehr erzürnt. Sie besaßen leider nicht so ein gutes und liebevolles Gemüt wie unsere Familie. Aus Rache entsandten sie daraufhin ihre bösen Kräfte, die Nuurtma, Mächte aus uralter Zeit. Unsere Eltern stellten sich ihnen entgegen. Sie wollten unsere Familie und auch Veronika schützen. Doch sie verloren und wurden beide getötet.
Vitus war schon damals ungeheuer stark. Er bezwang die Nuurtma und unterwarf sie. Nie hatte ich meinen Bruder so außer sich, so wütend und gefährlich gesehen.
Das war eine sehr schwere Zeit. Die Trauer um unsere Eltern war unendlich groß. Aber das Reich brauchte einen neuen König. Und so kam es, dass Vitus den Thron übernahm, sehr viel früher als gedacht.
Veronika war damals schon mit euch schwanger. Das Protokoll verbot es Vitus, sie zu heiraten. Dem wollte er sich mit aller Macht widersetzen, doch Veronika bat ihn, es zu lassen. Sie glaubte, sie hätte schon genug Unheil angerichtet. Ja, sie dachte allen Ernstes, sie wäre schuld an dieser ganzen Tragödie.
Vitus hat lange versucht, sie umzustimmen. Soviel ich weiß, blieb sie allerdings standfest der Meinung, seiner nicht würdig zu sein. Mein Bruder liebte sie viel zu sehr, um ihr einen Wunsch abzuschlagen, und schien deshalb ihre Bitte zu respektieren. Er hätte alles für sie getan.
Doch dann wurde sie nach und nach schwächer. Vitus und auch wir anderen Elfen konnten ihr nicht helfen. Es war rätselhaft, so, als hätte sie all ihre restliche Kraft nur dafür aufgespart, um euch das Leben zu schenken. Nach eurer Geburt starb sie. Sie ist einfach in Vitus’ Armen eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht.
Vitus war so verzweifelt. Mir schmerzt heute noch das Herz, wenn ich daran denke. Wie also musste sich dein Vater erst nach ihrem Tod fühlen. Ich wusste es nicht, denn er ließ nicht zu, dass ich es wahrnehmen konnte. Aber wir sahen es alle auch so. Er hatte sich verändert. Es brach ihm das Herz.
Euch wollte er nicht sehen, so gab er euch zu uns. Glaube mir, es war besser so. Aber ich weiß ganz sicher, dass er euch trotz allem sehr liebt. Es ist nur so: Ihr und besonders du, Viktor, ihr seht eurer Mutter unglaublich ähnlich. Ich denke, er kann es einfach nicht ertragen, wenn er Veronikas Antlitz in euren Gesichtern wiederfindet.
Was euch betrifft, hat er Isinis und mir keine Vorschriften gemacht, nur eine Bedingung: Kein Kontakt zu Menschen, zumindest bis ihr erwachsen seid.« …
Und das war Viktors Meinung nach der springende Punkt: Vitus’ Unberechenbarkeit und sein gestörtes Verhältnis zu Menschen. Was würde er also tun, wenn er von Anna erführe?
»Nein«, flüsterte Viktor, »das darf nie geschehen.«
Aber zurzeit saß er hier in dem Haus, das er gemeinsam mit Viktoria vor ein paar Monaten gekauft hatte.