Hüben und drüben Davor und danach. Beate Morgenstern

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Hüben und drüben Davor und danach - Beate Morgenstern

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Und was noch an Menschen waren, die auf der Straße ihr Leben fristeten. Auf dem Steinfußboden in der Einkaufspassage sitzend eine junge schwarzhaarige Frau, neben ihr ein in Tüchern gewickeltes Kleinkind. Junge Leute spielten auf Originalinstrumenten irische Folklore. Die Menschen umringten sie. Immer wieder ging einer in den Kreis, gab Geld in eine Büchse, nahm eine bereitliegende Kassette. Weithin zu hören das Spiel eines Akkordeons. Fröhliche, wilde Melodien. Wie sie näher kam, sah sie das Gesicht des Spielers: kalt, unbewegt. Seine Finger glitten mechanisch über die Knöpfe, die Tasten. Einer saß auf dem Boden, setzte die Flöte nie ab. Eine Melodie reihte sich an die andere. Das Instrument heiser. Der Spieler achtete nicht darauf, schaukelte rhythmisch nach vorn, nach vorn. Unaufhörlich. Niemand herrschte ihn an, man wolle ihn nicht mehr hören, nicht mehr sehen. Geld gab man ihm auch keines. Sie versuchte, das alles nur so nebenher zu sehen wie die Einheimischen und nicht zu werten. Sie war doch Gast in dem Land.

      Hertha fragte sie ab und schickte sie ins Naturkundemuseum. Nun musste sie doch fahren, ließ sich von Hertha sagen, zu welcher Station und wurde von den Fahrgästen darauf hingewiesen, den Sammelfahrschein zu entwerten, den sie in der Hand hielt. Wenn die Kontrolle käme! Das war eine solche Fürsorge! (Den Sammelfahrschein hatte sie von der Stadt zum Begrüßungsgeld hinzugeschenkt bekommen.)

      Indem sie die Funde aus früheren Erdzeitaltern besichtigte, bekam sie eine ungefähre Vorstellung, wie die Gegend Millionen Jahre, bevor die Menschen kamen, ausgesehen hatte. Schon in der Altsteinzeit war sie bewohnt gewesen, Kelten kamen. Römer. Einzig irritierten sie die vor Sauriern und Riesenhirschen sitzenden Kunststudenten. Ihr erschien deren Aufgabe sehr akademisch und wenig erfreulich.

      Am Abend übergab Heinrich ihr einen Brief von Götz. Sie las den Brief und sagte zu Heinrich, der sicher wissen wollte, was der Sohn geschrieben hatte: Der Götz hat mich eingeladen. Auf der Rückreise könne sie doch bei ihm vorbeischauen, hat Götz geschrieben. Platz sei in der Wohngemeinschaft genug.

      Heinrich teilte die Nachricht Hertha mit. Der Götz hat sie eingelade, so, sagte Hertha. Warum weiß i nix davon! Muss man solche Sache hinter meinem Rücke mache.

      Es war nicht hinter deinem Rücken, sagte sie. Er hat mir geschrieben. Heinrich hat mir den Brief gegeben!

      Ja, ihr erzählet!, sagte Hertha. Aber lassen wir das. Hertha nicht mehr zu bewegen, ein weiteres Wort der Erklärung anzuhören.

      Du musst den Götz anrufen, sagte Heinrich. Sie wählte die Nummer, die Heinrich ihr gab, erreichte Götz, sagte, wie sehr sie die Einladung freue und auch, dass seine Mutter irritiert sei.

      Da gib mir die Hertha doch mal!, meinte Götz, schien entschlossen, die angebliche Kränkung zu tilgen. Mutter und Sohn redeten lange. Danach war Hertha bester Laune.

      Kannsch der Beate mal zeigen, was dir am Herzen liegt, sagte Hertha zu Heinrich an einem anderen Tag und beauftragte ihn zu einem Spaziergang in die Staatsgalerie, was immerhin ein ganzes Stück Weg für Heinrich war. Sie schritten dann die lange Glasfront der Galerie ab. Heinrich zunächst auf ein anderes Ziel aus: In einem der Räume im Erdgeschoss tagten Hertha und ihre Mitstreiter wegen der Asylanten-Hilfe. Sie saßen hinter der Glasfront wie öffentlich ausgestellt. Als Hertha redete, erkannte auch Heinrich seine Frau an den Gesten. So eine kindliche Freude hatte er, Hertha heimlich zu beobachten, dass sie davon angesteckt wurde. In der Galerie lief sie bald herum wie betrunken. Wann je hatte sie in einer ständigen Ausstellung so viel an Originalen gesehen, die sie zuvor schon von Abbildungen kannte, Klee und Nolde und Picasso und Schlemmer und und! Heinrich erklärte den Reichtum: Die Mittel für den Ankauf der Bilder kämen aus dem Reinerlös der Klassenlotterie. Wir können sicher auf dem internationalen Kunstmarkt nicht mithalten, sagte sie und meinte mit wir den Staat, aus dem sie kam. Aber ihr habt Dresden! , tröstete Heinrich, führte sie zu der Vitrine, in der sich Arbeiten des Bildhauers befanden, von denen Hertha und Heinrich auch Stücke besaßen.

      Der Rückweg zu Fuß dann doch zu anstrengend für Heinrich, so dass sie die S-Bahn nahmen. Gern hätte sie von Heinrich erfahren, wie der Fahrkartenautomaten zu bedienen wäre. Doch der in Erklärungen über Alltagsdinge so unwillig wie Hertha.

      Einen Abend besuchten sie zu dritt eine Aufführung der anthroposophischen Bühne. Wenige, offenbar kundige Zuschauer hatten sich eingefunden. Damen neben ihr redeten von der Inszenierung einer anderen Bühne in so hohen Worten, die hätte sie nie in den Mund genommen. Hertha wies auf die gedeckt-rosa Farbe des Saals hin und die besondere Form der Säulen. Alles hatte seine tiefe Bedeutung.

      Nach der ersten Szene war ihr unklar, wie sie den Abend mit Anstand überstehen sollte. Vorsichtige Kritik hörte sie in der Pause selbst von ihren beiden Nachbarinnen: Im Grunde hätte man es ja hier mit Laien zu tun.

      Ich hätt nicht gedacht, dass so was geht, realistisches Theater, sagte Hertha nach der Vorstellung. Aber in sich issesch stimmig. Hertha hatte offenbar die Fähigkeit, sich Dinge zurechtzusehen. Und du, Beate, was meinsch?

      Nee, sagte sie. Nee! Mit diesen zwei Worten der Umgangssprache gab sie ihren Unmut kund, der beträchtliche Ausmaße angenommen hatte.

      Das Wochenende sollte gemeinsam verbracht werden. Für den Samstag ein Besuch im Thermalbad geplant. Gleich am Morgen stand sie im Flur, der übereck ging, sich vor der kleinen Küche weitete. Sie stand mit glühendem Kopf. Denn wieder einmal war sie die, die auf gar nichts von selbst kam, der man alles am liebsten dreimal sagen sollte und die alles falsch machte. Das Versäumnis konnte nicht wettgemacht werden, indem sie schnell mal hinunter ins Gartenhäuschen ging, um eins von den Badetüchern zu holen, die dort reichlich lagen und von denen sie eben nicht mitgebracht hatte. Nein, Hertha musste beschämen, indem sie ins obere Stockwerk stieg. Nun geh i selber nach oben, obwohl, notwendig war ´s net g´wesa!

      Sie schämte sich den Morgen immer so weiter. Nächstens im Thermalbad, dem Leuze, zu dem Hertha sie mit ihrer gerade reparierten Ente fuhr. Weil sie nicht wusste, dass die am Einlass gekaufte Karte als Verschluss des Spindes diente. Weil sie mit dem Mechanismus nicht zurande kam, so dass Hertha mit ihrer Karte den Spind schloss. Und wie sie nach dem Duschen am Beckenrand stand und Hertha kam und kam nicht und war auch nicht unter einer der Badekappen im Becken auszumachen, schwamm Heinrich auf sie zu und sagte mit großem Vorwurf in den Augen, was sie seiner Frau angetan hatte: Du hast Herthas Karte verloren! Sie konnte nicht vor und nicht zurück! Sie war also wieder an etwas schuld und wusste dieses Mal gar nicht, wieso. Dann war die Karte doch gefunden, sie war also falsch beschuldigt worden, und Hertha im Wasser, so dass sie nun auch ins Becken konnte.

      Das Wasser unerwartet warm. Sie schwamm durch einen mit durchsichtigen, dicken Folien-Bändern überbedeckten Durchlass ins Freie in einen ovalen Kanal, ließ das mit großem Druck aus Wänden herausschießende Wasser auf ihren Körper trommeln und vergaß alles, was sie den Morgen hatte an Beschämendem hinnehmen müssen, auch das flaue Gefühl aus leerem Magen. Denn Frühstück sollte erst nach dem Baden sein.

      Sie stemmte sich aus dem Kanalbogen, weil sie hatte einen hinüber springen sehen zu einem fast menschenleeren Becken. Sie wollte sich etwas beweisen. Sie also nass und fast nackt in Novemberkälte im Freien, rannte die kleine Strecke zum anderen Becken, stieg ins Wasser. Kalt. Oh! Oh! Sie musste gewaltig ihren Mund zumachen, um nicht Schreckensschreie hören zu lassen. Aber das Wasser perlte und reizte die Haut und machte die Haut warm. Wie sie was davon in den Mund bekam, schmeckte es nach Mineralwasser. Sie badete wohl nicht in Eselsmilch, aber in Wasser, sonst in Flaschen zum Trinken abgefüllt. War das gut! Sie sah auf den blauschwarzen Novemberhimmel, die grünen Wiesen, durch die Nässe schwarzen kahlen Bäume, den Hügel, hinter dem ein Kirchlein. Epigonal, was tat´s. Ein gleißend-goldener Streifen über dem Kirchlein wie ein Riss im schwärzlichen Himmel. Den Blick aus dem quellenden Mineralwasser mitten im November hinaus in diese Landschaft wollte sie im Kopf behalten. Wenige mit ihr im Becken. Die zogen stummstill ihre Bahnen in scheinbar gar keiner Freude und als gäbe es nur sie ganz allein. Das war hier wohl so, jeder für sich. Man kann auf Dauer

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