Stadt der Sünder. Myron Bünnagel
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Draußen war es kühl, aber immerhin hatte der Regen eine Pause eingelegt. Der Mond brach zwischen den Wolken hervor, während ich meinen Ford in Richtung Stadtrand lenkte. Zu DDR-Zeiten war der Sportplatz Trainingsstätte für diverse Sportgrößen, aber seit damals hatte die Gemeinde kein Geld mehr in ihn investiert. Die Tribüne war wegen Baufälligkeit gesperrt, das Vereinsgebäude hatte als Asylunterkunft gedient und war ausgebrannt. Der Rasen selbst war nun nicht mehr als ein holpriger Bolzplatz. Wir hatten früher darauf gespielt.
Ich parkte hinter einer Baumreihe und saß einige Zeit völlig regungslos da. Wenn ich jetzt ausstieg, war ich wieder auf der anderen Seite. Dann hatte ich nicht durchgehalten, mein Wort gebrochen. Aber … was machte das für einen Unterschied? Diese Sache war narrensicher, alles war unter Kontrolle. Ich war nicht gierig. Geld war nur ein Aspekt des ganzen Plans. Es ging um Rache, und die konnte ich langsam genießen. Kein drastisches Handeln mehr, keine Gewalt. Nur ein wenig Druck. Ich durfte Bodo ohnehin nicht zu sehr in die Enge treiben, er war nicht zu unterschätzen. Aber jetzt zurückgehen, alles abblasen, wegen einem Versprechen, das ich ohnehin nur mir gegeben hatte? Und Dolores … die davon nichts erfahren würde. Nein, meine Entscheidung war gefallen. Jetzt ging es darum, die Sache durchzuziehen.
Kurz vor zehn. Ich stieg aus, sah mich in der Dunkelheit um. Absolut still, keine Menschenseele in Sicht. Langsam ging ich zur Tribüne hinüber. Was, wenn er doch nicht kam? Wenn ich irgendeinen Faktor nicht kannte? Wollte er die Scheidung womöglich? Ruhig bleiben. Warten.
Die Turmuhr in der Stadt schlug zehn. Ein paar Tropfen lösten sich zögernd vom Himmel. Ich fühlte mich beschwingt, leichtfüßig. Als hätte ich ein bisschen zu viel Wein getrunken. Meine Gedanken kreisten um das Geld – nicht viel, aber genug, um durchzuatmen. Vielleicht würde ich einige Zeit aus dem Hotel ziehen. Und dann … Kamilla. Auch wenn sie es nie erfahren würde, befreite ich sie aus der Umarmung dieses Schweins. Wenn ich es geschickt anstellte, hatte ich vielleicht sogar genug Kohle, um … Motorengeräusch riss mich aus meinen Tagträumen. Auf dem Parkplatz am Vereinsgebäude hielt der Jeep. Seine Scheinwerfer zerrten das verkohlte Gebäude aus der Schwärze, dann verloschen sie. Es war wieder ganz ruhig, nur der Wind in den Bäumen und der zunehmende Regen. Dann ging die Wagentür und ich sah einen Schatten. Der Größe nach war es Bodo, der sich aufmerksam umschaute.
Jetzt ging es los. Ich trat aus meinem Versteck. Bemühte mich, entspannt da zu stehen. Wie bei einem Bluff. Keine Nervosität, keine Aggressivität zeigen. Wir konnten das ganz locker ablaufen lassen. Kein Stress, zumindest nicht an der Oberfläche. Ich war Bodos bester Freund, hütete sein kleines Geheimnis, sah zu, dass es sonst niemand erfuhr. Und dafür bekam ich eine Entschädigung, nichts Dramatisches. Ich lächelte sogar, als er auf mich zustapfte, ließ meine Arme baumeln. Keine Arroganz suggerieren.
Er trug Holzfällerhemden, Jeans und Stiefel. Dazu Lederhandschuhe. Sein Gesicht war verkniffen, zumindest, was ich im Mondlicht davon sehen konnte. In seinem Haar glitzerten Regentropfen. Seine Schritte knirschten auf dem Boden. Entschlossen, selbstsicher – wie immer. Etwas kleiner als ich, aber ein paar Kilo schwerer.
„Hallo, Bodo. Ich …“ Weiter kam ich nicht. Ich sah den Schlag nicht einmal kommen. Im nächsten Moment war er bei mir und die Faust traf mich an der Wange. Er hatte alle Kraft und Gewicht hineingelegt. Hinter meinen Augenlidern blitzte es grell auf, dazu ein stechender Schmerz, der meinen Schädel durchzog. Ich taumelte nach hinten, krachte unsanft gegen den Drahtzaun. Durch die Tränen konnte ich ihn nur verschwommen sehen. Die behandschuhte Faust. Er schlug wieder zu. Heftiger, weil meine Knie bereits eingeknickt waren und er von oben herab auf mich einprügelte. Wieder auf die gleiche Stelle. Ich riss einen Arm hoch, war aber viel zu langsam. Der Schmerz nahm noch zu, die Lichtpunkte wollten gar nicht mehr verschwinden. Blut rann mir in den Mund und ich fing an zu husten. Krallte mich mit einer Hand im Zaun fest, um nicht zu fallen. Spürte den nächsten Faustschlag. Ein Knirschen in meinem Kopf, dann Dunkelheit.
VI. Näher am Abgrund
Verdammt, ich hatte es mir selbst zuzuschreiben. Hätte es ahnen müssen. Gegen zwei Prinzipien verstoßen. Grundlegende Dinge, die mein Leben zusammengehalten hatten. Shit! Keine Fotos mehr – was war so schwer daran? Die waren immer ein schlechtes Zeichen, nichts Neues also. Keine krummen Touren mehr. So etwas wie den perfekten Dreh gab es einfach nicht. Und die Konsequenzen ließen nicht lange auf sich warten. Aber irgendwann wusste man es immer besser. War sich sicher. Hatte alles im Griff. Redete sich den ganzen Mist ein. Warum? Klar, ich wusste, weshalb. Nicht wegen dem Geld. Wäre es nur das gewesen … Nein, ich musste das zu etwas Persönlichem machen. Jeder Anfänger kapierte, dass Emotionen dich nur tiefer in die Scheiße ritten.
Dolores wäre bitter enttäuscht. Alles, was sie mir beigebracht hatte, war wegen Wut und Eifersucht über Bord gegangen. Verdammt unprofessionell, etwas, das sie niemals war. Ich konnte sie fast hören: „Niemals Persönliches und Job vermischen, Gideon. Niemals!“ Ja, …
Ich fragte mich ernsthaft, ob sie wegen mir heulen würde. Dolores weinte nie, nicht aus sich heraus. Zumindest hatte ich sie nie dabei gesehen. Nur für ihre Rollen. Sie war wütend, eingeschnappt, frustriert, traurig, aber … ich konnte mir nie sicher sein, ob das nun Teil ihrer Muttermaske wahr, oder wirkliche Gefühle. Und es gab bei uns niemand, der uns ansonsten in irgendeiner Form nahe gestanden hätte. Keine verdammten Todesfälle in der Familie. Nur uns beide, solange ich denken konnte. Also musste es ihr einfach etwas ausmachen, oder? Oder?
Bodo hievte mich über den Rand, die scharfe Felskante schnitt in meine Seite, meine tauben Hände fanden keinen Halt. Der beschissene Abgrund sprang mir entgegen. Der Schmerz in meiner Brust wollte mich umbringen, ehe ich unten aufschlug. Ich bekam keine Luft, mein Herz quetschte sich gegen den Brustkorb, sengende Linien rasten durch meine Eingeweide. Eine Woge von Panik kippte noch oben drauf. Schlimmer als alles, was ich je durchgemacht hatte. Selbst als der Moment, in dem man mein Leben für ein paar Jahre ausgesetzt hatte.
Es musste nur schnell zu Ende sein, jeder Augenblick machte es schlimmer. Der Druck in mir wuchs, presste sich in meine Kehle, in meinen Kopf. Ich war tot und brauchte doch eine Ewigkeit, bis ich im Nichts ankam.
In meinen Lungen brannte es, aber das Feuer brachte mich nur wieder zu Bewusstsein. Erschöpfung und Qual nisteten in meinem Körper, jede noch so kleine Bewegung verursachte mir Übelkeit. Im Licht der Scheinwerfer starrte ich mit aufgerissenen Augen in die Nacht. Der Regen fiel in Schnüren, es wirkte, als würde ich geradewegs in den dunklen Himmel gesogen. Erinnerte an eine Nahtod-Erfahrung, ein dumpfes Schweben, aber die Gedanken waren klar. Ich war eben nicht tot. Scheiße, ich fühlte mich so, aber mehr auch nicht. Stattdessen lag ich auf dem Rücken, meine gefesselten Arme unangenehm verdreht. Keuchte und stöhnte und versuchte, die Kontrolle über meinen zitternden Leib zurückzubekommen.
Neben mir kauerte Josiger, eine Hand noch immer in meinen Gürtel gekrallt, während er sich Regen und Schweiß aus dem Gesicht wischte. Auch er schnaufte heftig. Seine Basecap war verschwunden, das dunkle Haar klebte ihm am Schädel. Und die ganze Zeit über sah er mich an, während ich mich fragte, warum ich nicht mit gebrochenem Genick in der Schlucht lag. Ich war schon so gut wie unten gewesen, hatte den Abgrund unter mir gesehen, gespürt, wie ich überkippte. Ohne Halt. Aber er hatte mich nicht fallen lassen.
„Du verdammtes Arschloch! Mieser, kleiner Drecksack!“ Er schlug mir auf die Brust, vier- oder fünfmal, aber ohne viel Härte. Sein Fluchen ging über mich hinweg, stürzte sich in den Schlund neben mir. Schließlich verließ Bodo die Kraft und er sackte schwer atmend in sich zusammen. „Scheiße!“ Dann, noch einmal, leiser: „Du gottverdammter Scheißkerl.“
Ich sah vom Regenhimmel weg, mühsam zu ihm herüber. Im grellen Licht der Scheinwerfer war sein Gesicht voller Schatten. Ich