Stadt der Sünder. Myron Bünnagel
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Neben dem Parkplatz führte ein Trampelpfad in den Wald. Aber in der Dunkelheit konnte ich ihn nicht finden und zwängte mich mühsam durch das Unterholz. Immerhin drang kaum Regen durch das Blätterdach. Als ich klein war, hatte ich mich stundenlang hier herumgetrieben. Wir waren damals sechs oder sieben Kinder, ein paar ganz kleine darunter. Jeder in der Kommune kümmerte sich um uns. Oder niemand. Wir verliefen uns im Wald, bewarfen die Hütten mit Steinen, fielen in den See und stahlen Essen aus der Vorratskammer. Klang alles ziemlich idyllisch, aber eigentlich war es nur ein ganzer Haufen Scheiße, durch den wir mit unseren kurzen Beinen staken mussten. Keine Ahnung, wie oft ich in dem Alter Leuten beim Vögeln zugeschaut oder heimlich an einem Joint gezogen hatte.
Ich brauchte zwanzig Minuten, bis ich die Ausläufer der Ferienanlage erreichte. Man hatte geplant, sie bis zum Ufer runter zu erweitern, ehe Silvester dazwischen schlug. Zwei der Häuser waren nur noch Bauruinen, von Wind und Wetter und Kommunarden unbrauchbar gemacht. Dazwischen verliefen betonierte Wege. Im Sommer gab es einen Kiosk und Shuttlebusse zum Freibad, da die Touristen den See nicht benutzen durften. So viel ich wusste, schrieb das Projekt keine schwarzen Zahlen und Bodo war frühzeitig ausgestiegen. Aber nicht völlig, wie es schien.
In drei der Wohneinheiten brannte Licht. Von dem, was ich im Dunkel erkennen konnte, befand sich die Anlage in einem desolaten Zustand. Der Beton war gesprungen, überall wucherte Unkraut und der Wald war sehr dicht an die Gebäude herangerückt. Ich fragte mich, ob hier überhaupt Urlaubsgäste wohnten oder nur ein paar reiche Herren Zwischenquartier bezogen hatten, wenn es im Club 69 keine akzeptablen Mädchen gab.
Von außen konnte ich unmöglich sagen, welches Haus Josigers war. Also entschied ich mit einem anzufangen, das etwas abseits lag. Nur aus einem Fenster fiel Licht, gedämpft durch eine altrosa Gardine. Vom Garten keine Spur mehr, den hatten sich Brombeersträucher erobert. Ich fluchte innerlich. Meine nassen Klamotten begannen auszukühlen, hier war ich wieder weniger vor dem Regen geschützt und die Dornen taten ihr übriges. Die Ranken wucherten so wild, dass ich nicht dicht genug an das verdammte Fenster herankam. Zudem verursachte jeder Versuch, sich von ihnen loszureißen, Lärm. Trotzdem kämpfte ich mich so weit vorwärts, bis ich ins Zimmer sehen konnte. Meine Hand zog die Kamera unter der Jacke hervor, strich über den Haltegriff, den Auslöser. Blitzlicht war tabu, daher hatte ich gestern Nacht mit Einstellungen und Belichtungszeiten experimentiert. Mit etwas Helligkeit sollte ich ein paar akzeptable Aufnahmen kriegen. Allerdings nicht für den Prezella Fotowettbewerb …
Hinter dem Fenster befand sich ein Schlafzimmer. Ich konnte den Ausschnitt eines Doppelbettes erkennen. Die Gardine war zum Glück eine dieser durchscheinenden. Die Lampe an der Zimmerdecke brannte, direkt darunter stand Josiger und zog sein Hemd aus. Es ging los. Jetzt nahm ich alles nur noch durch den Sucher wahr, er wurde ein Teil von mir. Meine Finger fanden ihren Rhythmus am Auslöser.
Bodo war ein stämmiger Endvierziger. Dunkle, kurze Haare, kräftige Oberarme. Auch seine Brust war behaart, darunter zeigte sich der Ansatz eines Bierbauchs. Er redete mit jemandem außerhalb meines Blickfeldes. Und er hatte es eilig. Warf seine Hose in eine Ecke, dann machte er eine auffordernde Geste. Eine Frau näherte sich, ging aber sofort vor ihm in die Knie. Der verdammte Fenstersims war zu hoch, ich konnte gerade mal blondes Haar erkennen. Der Auslöser klickte, fing Bodos verzerrtes Gesicht ein. Sie verstand ihr Handwerk. Ich grinste, trotz Dornen und Kälte. Cornelia hätte mir eine Videokamera mitgeben sollen.
Jetzt wollte er mehr. Der Sucher verfolgte wie er sich breitbeinig auf das Bett legte. Sein Schwanz war beachtlich. Ich erinnerte mich an Gerüchte darüber, ein paar der Mädchen aus dem Club wollten ihn nach dem Tod seiner Frau nicht bedienen.
Und dann kam sie …
Blondes, schulterlanges Haar, etwa seine Größe. Ich konnte nur ihren Rücken sehen. Glatte Schultern und ein straffer Arsch. Jung. Sie stieg auf das Bett blickte auf ihn herab, ließ sich sinken und vögelte ihn.
Klick – klick – klick. Ich hämmerte auf den Auslöser. Auf und ab, auf und ab. Ihr Hintern pumpte. Seine Finger gruben sich in ihre Hüften.
Klick. Dann erkannte ich ihre Frisur.
Klick. Wusste, wer da auf ihm ritt.
Klick. Meine Hände fingen an zu zittern.
Klick. Ich schmeckte Galle in meinem Mund.
Klick. So jung.
Klick. Kamilla.
Klick. Alles fing wieder von vorne an.
Mit der Erkenntnis kam die Wut. In diesem Maß hatte ich sie lange nicht mehr gespürt. Heiß und stechend. Etwas, das sich einen brennenden Weg aus der Dunkelheit bahnte. Mein Körper begann zu schmerzen. Da war ein Schrei, der mir nicht aus der Kehle hervorbrechen durfte. Ich schloss die Augen, presste die Finger gegen die Lider, bis Sterne das Bild auslöschten. Kamilla und dieses Schwein. Doch sie blieben. Vögelten weiter, kaum vier Meter von mir. Auf und ab. Ihre Haare, Schultern, Hüften. Ihr Hintern. Seine Hände darauf, seine Finger in ihrem jungen Fleisch. Ich knurrte wie ein Tier. Krallte mich an die Kamera, bis das Gehäuse knirschte. Wut. Ich wollte die Spiegelreflex nehmen und durch das Fenster schleudern. Dann hinterher klettern und Kamilla von ihm herunterzerren. Die Scheiße aus ihm herausprügeln. Mein Schmerz in ihn hineinhämmern.
Aber ich tat es nicht. Wandte mich um, bahnte mir halb von Sinnen einen Weg durch das Dornengestrüpp. Ich wollte ihr Gesicht nicht sehen. Nicht dort, nicht so. Meine Haut juckte, aber ich hielt erst an, als ich zwischen den Bäumen heraustaumelte. Dann begann ich zu schreien. Heulte wie ein abgestochenes Schwein, schlug und trat gegen die Autos, bis Lichter in den Hütten angingen. Ehe mich jemand aus der Kommune sehen konnte, rannte ich zu meinem Wagen, warf mich hinter das Steuer und … und sackte erschöpft zusammen. Die Raserei ebbte ab, die Wut zog sich wieder zurück. Dorthin, wo ich sie eingeschlossen hatte. Wo sie wartete. Kontrolle – Kontrolle war alles.
Ich fuhr. Trieb über Landstraßen, wechselte auf die Autobahn in Richtung Grenze, jagte die Tachonadel hoch. In mir brodelte es. Ich war voller Selbstmitleid, Ärger, Frustration. Die Dinge, die uns wirklich wehtaten, waren die einzigen im Leben, die zählten. Wir wussten es erst dann, wenn die Wunde klaffte und der Schmerz da war.
Ich drehte mich innerlich im Kreis. Nur nicht den gleichen Fehler noch einmal machen. Denk nach, Marr, denk nach! Ich musste der Wut einen Kanal geben, sie langsam fließen lassen. Oder sie würde mir nur Ärger einbringen. Aber es war schwer, gegen die roten Schleier anzugehen. Nicht unbedarft zu handeln. Überlegt. Fokussiert.
Entschlossen trat ich auf die Bremsen, kurbelte wie verrückt am Lenkrad und schaffte gerade noch die Ausfahrt. Die Neonlichter von Muttis. Eine Truckerkneipe erster Güte, das letzte deutschsprachige Höllenloch vor der Grenze. Schlägereien wurden nicht den Bullen gemeldet, solange irgendjemand für den Schaden aufkam. Im Hinterzimmer wurde gespielt oder illegale Geschäfte abgewickelt. Und in der oberen Etage hingen all die Nutten ab, die im Club keine Kohle mehr einbrachten. Donnerstags feierten die örtlichen Skins in der alten Werkstatt neben an, samstags war Stripteaseabend. Der Alkohol war billig und das Essen genießbar.
Mutti war eigentlich Oskar, ein ehemaliger Bodybuilder und Exknacki, der sich hatte umoperieren lassen. In etwas, das nicht mehr aussah wie ein Steroidberg, aber weit davon entfernt war, feminin zu wirken.
Ich war lange nicht mehr hier gewesen.
Fünf LKW standen auf dem Parkplatz, ein paar Motorräder und Oskars Lieferwagen. Mittwochs