Nest im Kopf. Beate Morgenstern
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Eigentlich hat außer mir nur Mechthild Omi noch richtig gekannt, sagte Anna.
Oh, das glaube ich nicht. Sie war doch jedes Jahr vier Wochen bei uns.
Schon. Anna überlegte. Sie hatte wohl etwas anderes gemeint. Anna und Mechthild, die beiden Ältesten, hatten in ihrer Kindheit dieselben Menschen mit ihrer Liebe verfolgt und bewiesen noch heute Anhänglichkeit an sie, während Erdmuthe abweisend gewesen war, die dritte und schönste Tochter aus dem Märchen, und dem Herzen der Mutter am nächsten, hatte Anna gemeint, bis Anna herausbekam, Mechthild, das Sorgenkind, stand ihr am nächsten. Erdmuthe hatte niemanden neben der Mutter geduldet, noch nicht einmal die Großmutter.
Sie wäre in diesem Frühjahr hundert geworden.
Hast du daran gedacht?
Natürlich. Ich war an dem Tag draußen bei Bekannten. Sie mussten auf den Hundertsten von Omi mit mir anstoßen.
Treu bist du.
Anna zuckte mit den Schultern. Was hieß Treue? Sie konnte nicht vergessen. Das war alles. Vielleicht eine Krankheit.
Vater und ich feiern immer noch.
Die Eltern nutzten jede Gelegenheit, um Abwechslung in den Jahresablauf zu bringen. Sie feierten auch früher die Geburtstage aller abwesenden Familienmitglieder. Von jeher war der Geburtstag der Großmutter besonders begangen worden. Nun ließen sie auch nach deren Tod nicht von dieser Gewohnheit.
Wie wir die Abende hier draußen genießen, sagte die Mutter und atmete tief durch.
Warum bist du nicht mit Vater gefahren?
Es hat sich nicht ergeben. Außerdem kann ich die Zeit jetzt auch brauchen. Warum lachst du?
Ihr habt so Ausdrücke: Es hat sich nicht ergeben, es hat sich nicht gefügt, es war uns nicht verordnet oder doch vergönnt.
Ja und? Was ist daran so komisch?
Das kannst du nicht begreifen. Jemand anderes hätte einfach gesagt: Es passte nicht. Ihr aber ergebt euch, fügt euch.
Soso. Du hörst ja sehr genau hin. Wir sind wohl gute Studienobjekte für dich?
Unsinn. Anna hatte nicht mit der Empfindlichkeit der Mutter gerechnet, die oft ganz überraschend auftrat und die Spottlust der Familie, besonders des Vaters, eher noch förderte.
Eine Nachbarin ging den Mittelweg entlang in den hinteren Teil des Gartens. Da sie nicht redeten, wurden sie nicht von ihr bemerkt.
Wie lange sind wir beide nicht mehr allein gewesen.
Anna sprach leise, damit sie nicht gehört wurden.
Ja, ich hab auch gedacht, es könnte doch mal ganz hübsch sein.
Sie hätte mich schon verwöhnt, dachte Anna. Nur, die Geschwister waren jünger, bedürftiger. Immer sind die Jüngeren bedürftiger.
Haben wir uns zu wenig um dich gekümmert? Die Mutter schien Annas Überlegungen zu erahnen.
Anna wich aus. Ihr habt gemeint, ich komm schon durch. So habt ihr mich halt eingeschätzt. Schnell war Anna bereit zu entschuldigen. Vor Jahren hatte Anna die Mutter in Gedanken mit Vorwürfen überhäuft. Doch nun konnte sie nicht zulassen, dass sich die Mutter ihretwegen belastete.
Fehler macht man immer, die Mutter seufzte erleichtert.
Das weiße Gartenhäuschen hob sich kaum mehr vom hellen Abendhimmel ab. Anna sah die runden, sich zum Giebeldreieck verjüngenden Eingangssäulen. Diese Gartenhäuschen gehörten zu Gottshut. Einige tempelartig. Schiefergedeckt, aus Holz, weiß gestrichen, andere teerüberdacht, aber mit reichem Schnitzwerk, manche auch gemauert und gelb getüncht. Es kam Anna so vor, als hätte sich über Jahrhunderte das eigentliche Leben der Gottshuter Brüder und Schwestern in diesen Gärten abgespielt, und noch heute bevölkerten ihre heiteren Seelen die verlassenen Häuschen, in denen sich keine Gemeinschaft mehr zusammenfinden wollte, außer dass Kinder sie zufällig zum Spielen benutzten. Nach und nach verfielen sie und wurden abgetragen.
Gehen wir? sagte die Mutter, blieb aber noch eine Weile neben Anna sitzen.
Anna schlief schwer ein. Von nirgendher kam Licht, nicht aus dem Hof, nicht vom Garten. Nicht einmal ein Geräusch war zu hören. Eine solche Stille und Dunkelheit, es nahm ihr den Atem. Endlich machte die Müdigkeit sie gleichgültig.
Lange war es still um sie. Dann erstand aus hellem Nebel eine Stadt mit engen Straßen und hohen Häusern. Dunkle Löcher klafften statt Fenstern und Türen. Ziegelsteine waren herausgebrochen. Anna stand auf dem weiten Platz in der Mitte und konnte ganz ruhig sein. Der Krieg hatte das Böse aus den Häusern herausgetrieben. Menschen liefen geschäftig auf den Straßen und gingen in die Häuser. Es schien sehr wichtig, Brot zu backen. Die Kleider waren von weißem Mehlstaub bedeckt. Hin und wieder wurde Anna angesprochen. Aber sie merkte es nur daran, dass man sie anblickte und etwas von ihr wollte. Annas Weg führte zu einem Haus in der Straßensenke, das unbeschädigt war. Im Haus ging sie eine abgetretene Holztreppe hinauf. Eine breite Diele im Obergeschoss. Hinter einer der Türen hatte ein großes Mädchen mit dem Namen Lilo gewohnt, das gut zu Anna gewesen war. Vielleicht sollte Anna an eine der Türen klopfen, und Lilo, das Mädchen mit den dicken, dunklen Zöpfen, gäbe sich endlich zu erkennen.
Eine schmale Holztreppe zum Dachgeschoss. Rechts die Kammer vom alten Herrn Renzoni. Anna war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er vielleicht schon gestorben sei und die Kammer nur mit dem Gerümpel fremder Leute angefüllt. Da entschloss sie sich, die Klinke der Tür herunterzudrücken, hinter der sich ihre alte Wohnung befand. Die Wohnung war unverschlossen. Sie sah durch den Flur in die große Wohnküche. Die Großmutter legte Leibwäsche zusammen. Ihre knochigen Hände zerrten ungeduldig an den Stücken.
Wohnst du jetzt wieder hier? fragte Anna.
Die Großmutter zog die Augenbrauen hoch. Auf ihrer Stirn bildeten sich viele kleine Runzeln. Sie blickte Anna mit ihren durch die Starbrille vergrößerten blauen Augen vorwurfsvoll an. Ja, natürlich, sagte sie, legte ein Hemd auf den Wäschestapel, das letzte Stück der Leibwäsche, und nahm ein Kopfkissen. Sie breitete es auf dem großen, ausziehbaren Küchentisch aus und sprengte es mit Wasser aus einer kleinen, Anna wohlbekannten verbeulten Aluminiumschüssel, die sonst die Mutter für Küchenkräuter verwandte. Das silberne Schüsselchen.
Weißt du, so habe ich mir das gewünscht, sagte Anna und war glücklich, dass es gekommen war, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie ging näher an das große Küchenfenster und erinnerte sich, wie die Mutter den Ausblick auf den Kretzschmar gelobt hatte, hinter dem abends die Sonne unterging. Ein Bahndamm hinter Hof und Gärten.
Anna wandte sich der Großmutter zu. Du hast wieder den schönen Ausblick, sagte sie. Und die Wohnung ist besser für dich als die der Eltern. Da hättest du bei den vielen Treppchen leicht stürzen können. Sie merkte, dass sie die Eltern entschuldigte, die die Heimkehr der Großmutter nach Gottshut nicht mit genügend Eifer