Nest im Kopf. Beate Morgenstern

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      Ich hätte gern den Schlüssel zum Altan.

      O ja, o ja. Die Frau lief in die Wohnung, als hätte sie etwas versäumt, das nun eilig nachzuholen sei.

      Anna hatte behutsam mit ihr geredet und sehr artikuliert wie mit einer Kranken, denn die Frau hatte ihr sofort ein Gefühl von Überlegenheit aufgedrängt, das Anna oft im Umgang mit fremden Menschen an sich erlebte. Offensichtlich strahlte sie eine Gelassenheit aus, die ihr selbst nicht bewusst war. Wobei es darauf ankam, wie die Menschen ihr begegneten, welches Verhalten sie voraussetzten. Anna ließ sich auch schnell einschüchtern.

      Immer noch den Blick zur Seite gerichtet, kam die Frau des zweiten Ortspfarrers mit dem Schlüssel zurück.

      Zum Aussichtsturm, den die Gottshuter auf dem Berg errichtet hatten, an dem sie ihren Gottesacker anlegten, war es nicht weit. Denn die Gärten, die Gottshut auf dieser Seite wie ein Saum umgaben, lagen am Fuß des Berges. Anna hakte das Gatter der Umzäunung auf und schaute über das Kornfeld. Es reichte bis über den Rücken des Hutberges hinunter zum nächsten Dorf. Niemals wurde auf dem Feld neben dem Gottshuter Totenacker etwas anderes als Getreide angebaut. Der Bruderbund bestimmte es. Ihm gehörte das Land. Die Nachbarschaft eines Getreidefeldes war sinnreich, denn das Bild vom Weizenkorn, das in der Erde aufging, um vielfältig Frucht zu bringen, war eines der Zentralen im Leben der Gemeinschaft.

      Anna ging den Weg am Feld entlang, der an einer Bruchsteinmauer endete. Eine Querstraße lief hier aus. Ein Pfad führte über den Berg. Bald begannen die hohen Buchenhecken des Gottesackers, die einige Durchschlupfe hatten. Die Gottshuter nahmen es mit den Ein- und Ausgängen nicht so genau. An der Bergkuppe bog Anna ab, lief an einem kleinen vertümpelten Steinbruch vorbei. Der Weg, zuletzt mit Kies bestreut, umrundete den Gipfel. Dann stand Anna vor dem Altan. Ihr gefiel die klangliche Ähnlichkeit mit dem Wort Altar, und sie dachte an ihn immer wie an einen antiken Tempelbau auf einer Bergeshöhe. Der steinerne Innenturm war von einem hölzernen Rundturm umkleidet, die Hölzer weiß gestrichen, die Rundbogen trugen eine Aussichtsplattform. Das durchbrochene Geländer bildete den Reif auf dem Haupt des Gottesberges. Dieser Tempel musste von Geweihten aufgeschlossen werden, die andächtige Besucher führten, oder von ganz jungen Liebespaaren, die hier ungestört ihre Abende verträumten.

      Anna wog den einfachen, großen Schlüssel in der Hand. Viel schwerer waren die Kirchenschlüssel des Vaters gewesen, schön geschmiedet. Von den Geschwistern hatte nur sie Zugang zu ihnen gehabt, weil sie von einem bestimmten Alter an täglich an der Orgel übte.

      Anna schloss die Tür zum Altan auf, tastete sich im Dunkel die Wendeltreppe hinauf, stieß die obere Tür auf und musste sich erst an das helle Licht gewöhnen. Sie lehnte sich an die Brüstung und schaute auf die Baumkronen hinab und die breite, von Buchenhecken abgeschirmte Treppe hinunter zum Gottesacker, über die Alleen gestutzter Bäume hinweg zum Städtchen hin, das im Grün versank, eingebettet war von Misch- und Laubwäldern. Wie ein Krönchen darüber der kleine Barockturm des Kirchsaals. Golden leuchteten Wetterfahne, Kugel und Uhrzeiger. In der Ferne zeichneten sich Berge ab. Die Vorderen kräftig. Schau, das ist der Czorneboh und das der Bieleboh, hatte der Vater gesagt und Anna auf die Berge seiner Kindheit hingewiesen. Der schwarze und der weiße Gott in der Sprache der Sorben. Wurden nicht bei vielen Völkern Berge als Gottheiten verehrt? Die Bergketten am Horizont schwach im Dunst der Atmosphäre. Auf der mit Blech ausgeschlagenen Brüstung waren Namen und Höhe der Berge verzeichnet. Herthelsdorf im Osten. Da begann der Lauf der Sonne. Im Südosten Polen, im Süden das tschechische Isergebirge. Die Nachbarn waren an Gottshut herangerückt, umschlossen nahezu das kleine Stück Erde, auf dem böhmische und mährische Exulanten einstmals Zuflucht gefunden hatten. Und hinter dem Kretzschmar ging die Sonne unter. Oft hatte Anna als Kind aus dem Küchenfenster auf den Kretzschmar geschaut und den Sonnenuntergang beobachtet. Und die Mutter und die Großmutter traten auch mal ans Fenster, wenn es Abend wurde.

      Die Kirchenglocken schlugen. Neun Uhr. Anna ging hinunter in den Ort.

      Die kleine Straße, die auf die Rückseite des Kirchsaals zuführte, war vom Kriegsbrand unversehrt geblieben, ebenso der Witwenhof, der den kleinen Platz mit seinem Heckenwandelgang und den bei den kegelförmig verschnittenen hohen Zypressen rechter Hand abgrenzte. Auch die vom Witwenhof abgehende Nebenstraße unbeschädigt. Wiedererbaut nach dem Brand der Kirchsaal. Hier, zwischen Kirchsaal und Witwenhof, verharrte Anna. Sie hatte das Bild vom alten Gottshut vor Augen. In einem einheitlichen Stil die Gebäude: Fenster in den zweigeteilten Dächern, die obere Reihe lidförmig, sogenannte Kuhaugen, die Zweite spitzgiebelig. Die Treppen an den Seiten abgerundet, gusseiserne Haltebögen. Von den Hausmauern abgesetzte Blenden um die in kleine Quadrate geteilten Fenster, diese für gewöhnliche Wohnhäuser klein. Die des Kirchsaals reichten über zwei Stockwerke, der aber sonst sehr einem gewöhnlichen Haus glich mit seinem zweigeteilten Dach und den Erkerfenstern in beiden Dachgeschossen. Nur in der Mitte des Dachs ein Turm aufgesetzt, ein Dachreiter. Und in seiner Größe übertraf der Kirchsaal die übrigen Gebäude. Gottshut, eine Kommune aus dem Geist der Urchristenheit entstanden, großzügig geplant und in einem Atemzug erbaut. Wohnhöfe, meist im Geviert errichtete Komplexe, für die ledigen Brüder, die ledigen Schwestern, die Pilger. Eine Mädchenanstalt, eine Knabenanstalt. Häuser für Witwen, ein Altenheim. Das Krankenhaus, die Apotheke, die Gemeinbäckerei, die Wäscherei, alles von den Brüdern verwaltet. Selbst die Fabriken des Fabrikanten Abraham Haslinger waren in den Besitz der Brüder übergegangen, ebenso die Ländereien des Grafen, auf dessen Grund sich die Böhmen und Mähren niedergelassen hatten. Nach dem Vorbild der Muttergemeinde entstanden im Land und in Missionsgebieten andere Gottshuter Siedlungen.

      Im Witwenhof war Anna oft gewesen. All die alten Damen, ledig, verwitwet, die Anna vom Sehen her kannte und grüßte, sie lebten in den Wohnungen der verschiedenen Aufgänge, lebten hier, solange sie selbständig einen Haushalt führen konnten. Zwei Frauen teilten sich eine Wohnung, benutzten eine Küche. Die Religionslehrerin fiel Anna ein, die Buchhändlerin, die Schwester von Tante Leonie, die beiden Freundinnen von Tante Leonie. Zu dritt und eifersüchtig sich gegenseitig beaufsichtigend, hatten sie Tante Leonie gepflegt, die auch einmal die Freundin von Annas Mutter gewesen war und dann Annas mütterliche Freundin. Ausgezogen, weggegangen war Annas Schwester Mechthild, die hier gewohnt hatte. Ausgezogen auch Tante Leonie, um in eine der himmlischen Wohnungen einzuziehen.

      Anna ging in einen der breiten Hauseingänge, die dem Kirchsaal zu lagen. Eine klappende Glastür, die den Vorflur vom Flur trennte. Der eigentümliche Geruch von frischem Bohnerwachs, Kräutern und süßen Äpfeln, vermischt mit dem strengen Geruch von Kloake. Eine Treppe, die sich zwei Stockwerke hinaufwand. Weiß lackiert das Geländer, schwarz die Griffstangen. Unauffällig in Ecken und zwischen Flurtüren Kleiderschränke verteilt, die in den kleinen Wohnungen keinen Platz mehr fanden. Schöne Stücke darunter. Die Treppenabsätze schmückten weiße altertümliche Blumenständer. Blattpflanzen auch in den tiefen abgerundeten Fensternischen, aus denen viel Licht kam, das von dem 'Weiß der Wände reflektiert wurde. Eine Stille, von argwöhnischen Ohren der Schwestern hinter den Türen belauscht. In einem solchen Haus konnte einfach nichts Schlimmes geschehen. Manchmal nahm wohl ein leiser Tod eine Bewohnerin mit sich. Doch ohne auf der spiegelblanken Treppe eine Spur zu hinterlassen, und nur im Gedächtnis der übrigen Bewohnerinnen haftete eine wehmütige Erinnerung.

      Anna schaute nun auch in den Hof, der über den vielen hundert Gesichtern, die er im Laufe der Jahrhunderte gesehen hatte, erblindet war, setzte sich auf eine schmale Bank. Ein quadratischer Wäscheplan füllte den Hof aus, nur am Rand ein gepflasterter Gang. Ein kleiner, nützlicher Hof, auf der vierten Seite im Quadrat ein niedriger hölzerner Schuppen. In den Verschlägen lagerten die Bewohnerinnen Holz und Kohle und bewahrten die Geräte für die Bearbeitung der Beete im Gemeinschaftsgarten hinter dem Hof.

      Eine Frau trat aus einem der Eingänge mit einem Korb nasser Wäsche. Ein kurzer Blick zu Anna, die stumm nickte. Die Frau hängte die Wäsche auf und kümmerte sich nicht um Anna. Man war

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