Nest im Kopf. Beate Morgenstern

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Nest im Kopf - Beate Morgenstern

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sagte die Großmutter feierlich. Ich darf meine letzten Tage in Gottshut verbringen. Auch meine Grabstelle ist schon bestimmt. Ich werde nach Schwester Goldstücker sterben. So werden wir nebeneinanderliegen.

      Aber Schwester Goldstücker lebt doch noch, sagte Anna und benutzte einen Namen, von dem sie wusste, dass er falsch war. Doch sie meinten dieselbe Person.

      Ja, sie wird vor mir sterben, beharrte die Großmutter. Und ich bin die Nächste. Ein wenig Zeit hat Gott mir noch hier auf Erden geschenkt.

      Dann werde ich euch beide besuchen, versprach Anna. Alles bekommt seine Ordnung, dachte sie. Ich habe mir so sehr gewünscht, dass dir dein letzter Wunsch erfüllt wird, sagte Anna und fühlte, wie sie vor Erleichterung zu weinen begann. Zu unerträglich war ihr die Vorstellung gewesen, der Großmutter würde die Erfüllung ihres letzten Wunsches verweigert werden.

      Hier habe ich meine geistliche Heimat, sagte die Großmutter und sah Anna ernst an mit der deutlichen Ermahnung, dass auch sie endlich Frieden mit Gott schließen solle.

      Ich weiß, sagte Anna. Du hast es immer geschrieben. Ich hab auch gedacht, du kannst nie zu alt sein.

      Es steht dir nicht zu, mit den Eltern zu hadern. Nein. Nun gibt es ja auch keinen Grund mehr.

      Die Großmutter setzte sich auf ein kleines Sofa. Anna nahm neben ihr Platz und schaute auf die zusammengelegten männlich kräftigen Hände.

      Es ist aber gut, dass ich hergekommen bin. Keiner hat mir gesagt, dass du hier bist. Und wenn du bald sterben wirst, ist es gut, wenn ich dich vorher noch einmal sehe, nicht wahr? Anna strich über die Außenflächen der Hände. Sie fühlte, sie hatte ein Recht, die Großmutter zu streicheln.

      Die Hände der Großmutter öffneten sich. Anna legte ihre hinein.

      Du denkst daran, dass ich dich wiedersehen möchte, sagte die Großmutter. Du weißt, es gibt nur einen Weg.

      Ja, Omi. Anna bemühte sich, an den bekümmerten alten Augen vorbeizuschauen. Wenn du hier so allein wohnst, sagte sie, dann könnten die Eltern wieder zu dir ziehen. Sie müssen ohnehin ihre Wohnung räumen. Anna freute sich, wie leicht sich alles löste.

      Die Großmutter schwieg. Sie hatte Anna wohl nicht gehört. Ich möchte dich wiedersehen, Kind, sagte sie noch einmal.

      Plötzlich war Anna allein. Sie stand auf und suchte nach Spuren, die bewiesen, dass sich die Großmutter in der Wohnung aufgehalten hatte. Am gewohnten Platz hing ein Foto in silbernem Rahmen: die Großmutter und der Großvater. Die Großmutter spitznasig, die Haare in der Mitte gescheitelt und eingerollt und mit einer wenig zu ihr passenden Handarbeit beschäftigt. Den Großvater erkannte Anna an dem abrasierten Schädel und dem Zwicker. Er hielt eine Zigarre in der dicken Hand.

      Nachdem Anna das Foto gesehen hatte, wusste sie, dass sie auf ein Wiederkommen der Großmutter nicht mehr hoffen durfte. Die Großmutter hatte etwas mitzuteilen gehabt und sich danach entfernt.

      Auf der Treppe traf Anna die Nachbarin. Wir werden wieder in unsere alte Wohnung ziehen, sagte Anna. Unsere Großmutter ist zurückgekommen.

      Das wurde auch Zeit, entgegnete die Nachbarin. Anna lief die schmale Gasse hinauf in die Nebenstraße, um den Eltern die freudige Nachricht mitzuteilen. Jemand drückte ihr einen Brief in die Hand, sie brauchte ihn nicht zu öffnen, denn schon hörte sie die Großmutter. Ja, meinen Gottshut-Traum musste ich aufgeben. Zwanzig Jahre früher wäre es noch gelungen. Jetzt ist es zu spät. Auch die Wohnung ist nicht vorhanden. Es ist die Atmosphäre dort, in die ich gern noch einmal heimgekehrt wäre. Hier fehlt sie mir. Aber ich habe die Pension der Schwestern von Hensoldshöhe bewusst verlassen, um hier mit der sehr guten Pension meines Mannes zu helfen. Und zwar gerade noch rechtzeitig, ohne dass ich es wissen konnte: Zwei Töchter führen gleichzeitig ein längeres Studium durch. Daher ist mein Dasein nicht unnütz, wenn ich auch nun keine andere Möglichkeit habe, jemandem zu nützen. Das Abnehmen der Kräfte muss man bejahen lernen.

      Anna fand sich in der elterlichen Wohnung wieder. Im Flur traf sie auf den Vater, hielt ihn am Arm fest und wollte ihm mitteilen, dass die Großmutter da gewesen wäre. Doch ihr Eifer verscheuchte den Vater. Er löste ihre Hand und bedeutete mit einer Geste, dass er ein dringendes, nicht aufschiebbares Amtsgeschäft zu erledigen habe. Eine Ahnung trieb Anna ans Fenster: Die Großmutter ruhte im Liegestuhl. Der Kirschbaum verdeckte eigentümlicherweise nicht die Sicht. Anna sah ganz deutlich das Gesicht der Großmutter, in das die Nachmittagssonne fiel. Die bräunliche Farbe der Stirn und die aufgesprungenen Äderchen der Wangen gaben ihr ein blühendes Aussehen. Das Gesicht umrahmten dichte, grauweiße Haare, die zu einem losen Knoten zusammengesteckt waren. Eine Frau in hellem Kleid näherte sich der Großmutter und beugte sich zu ihr herunter. Omi?

      Jajaja, murmelte die Großmutter.

      Ich bin's.

      Die Großmutter öffnete langsam die Augen. Hildekind?

      Der Kirschbaum schloss seine Zweige. Anna hatte genug gesehen und ging zur Bodentreppe.

      Unten erschien die Mutter mit einem großen Blumenstrauß. Sie lief die Stufen herauf und sagte atemlos und glücklich: Denk dir, Anna, unsere geliebte Omi hat mich noch erkannt! Dann wurde sie nachdenklich und sagte: Sie begreift nur noch das Nächstliegende. Die Stimme der Mutter klang, obwohl sie in Annas Nähe stand, wie aus weiter Ferne, als bewege sie nur ihre Lippen und jemand anderes spräche.

      An mich erinnert sie sich nicht mehr?

      Nein, Anna. Es hatte wenig Sinn, deine Grüße auszurichten.

      Unsere Omi geht weg von uns?

      Die Mutter lächelte traurig: Sie ist schon von uns gegangen.

      Nun wurde Anna die Bedeutung des Blumenstraußes klar. Die Großmutter hatte sich nach ihrem Tod noch zweimal gezeigt, um Anna mit ihrem Sterben zu versöhnen.

      Dann bist du jetzt unsere Omi? fragte Anna und spürte, wie die Zärtlichkeit für die Großmutter auf die Mutter überging.

      Ja, Annakind. Uns ist die Zuversicht gegeben, dass du zu uns zurückfinden wirst, denn wir beten für dich.

      Omi ist tot, wiederholte Anna und hoffte, dass die Mutter ihre Worte widerrufen würde.

      Sechsundneunzig Jahre, erinnerte die Mutter. Es ist ja nur eine vorläufige Trennung.

      Vater beerdigt sie? Anna stellte die Frage vorsichtig, um die Antwort der Mutter nicht vorwegzunehmen, womöglich noch günstig zu beeinflussen. Denn beerdigte der Vater die Großmutter, hieße dies, die Großmutter würde doch noch in Gottshut neben dieser Schwester Goldstücker beigesetzt.

      Als Antwort hörte Anna die Stimme des Vorlesers: Ihre Enkelin Ille Kröger sah die Großmutter als letzte. Die Großmutter sah hübsch aus wie ein junges Mädchen mit rosigen Bäckchen und heiterem Gesichtsausdruck. Jedoch veränderte sie sich zwei Stunden nach ihrem Hinscheiden und war völlig fremd, sodass man den Sarg zu schließen gezwungen war, einen braunen Eichensarg, welchen ihr Sohn Armin ausgesucht hatte. Es war der Tag, an dem in Süddeutschland ein schweres Unwetter herniederging und viel Zerstörung brachte im ganzen Landstrich. Doch der Gang zum Grab und die kurze Liturgie konnten ohne Regen geschehen, nachdem der Ortspfarrer nach dem Willen der Familie in der Kirche den von der Dahingeschiedenen selbst verfassten Lebenslauf verlesen hatte. Die Tochter der teuren Toten tat einen Strauß Rosen aus ihrem eigenen Garten auf das Grab. Zahlreiche Verwandte und Bekannte waren anwesend. Mit einem Wort Heinrich Heines, das am Grab ihres Sohnes in Russland gesprochen wurde, endete die Versammlung.

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