Nest im Kopf. Beate Morgenstern

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Nest im Kopf - Beate Morgenstern

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ein Wallfahrtsort, dachte Anna. Niemand möchte etwas versäumen. Der Glaube an die Gesundung, der sich von der Tante auf Anna übertragen hatte, kam ins Wanken. Sie hatte von der Euphorie Kranker im letzten Stadium gehört.

      Die Tante und Anna lauschten.

      Ein zweites Mal wurde stärker geklopft. Dann traten ein weißhaariger Mann und eine jüngere Frau ein.

      Ach, Geschwister Mirtsching, ihr seid es. Tante Leonies Gesicht hellte sich auf.

      Anna wartete auf ein Zeichen der Tante und machte sich zum Gehen bereit.

      Bleib, Anna, bleib, gurrte Tante Leonie aufgeregt.

      Wir wollen nicht stören, Schwester Fendel, sagte die Frau. Ihre starke Fröhlichkeit irritierte Anna.

      Ihr stört überhaupt nicht, sagte Tante Leonie überzeugend. Ihr kennt euch doch? Fragend sah Anna die Frau an.

      O ja, sicher.

      Anna hob die Schultern. Ich weiß im Augenblick nicht so recht.

      Wir sind einmal zusammen spazieren gegangen, als du zu Besuch in Gottshut warst.

      Anna tat der Einfachheit halber, als erinnere sie sich schwach. Sie überließ dem alten Mann den Besucherhocker und setzte sich auf das harte, breite Bett neben dem Ofen.

      Der alte Mann gefiel Anna. Er wirkte wie jemand, der sich eine für seinen Stand nicht selbstverständliche Bildung erworben hatte, aber weiter mit seiner Hände Arbeit sein Brot verdiente. Er entsprach Annas Vorstellung von den Gottshuter Gründern.

      Während sich Vater und Tochter Mirtsching mit Tante Leonie unterhielten, hatte Anna Muße, sich im Zimmer umzuschauen und die Farben der Erinnerung aufzufrischen für den Fall, dass sie eines Tages nur auf ihr Gedächtnis angewiesen wäre.

      Ein massiver, mit Messingbeschlägen versehener Mittelfußtisch aus Birnbaum. Durch die Platte ging ein Sprung. Ebenfalls aus dem gelben Holz der alte Sekretär am Fenster. In der Ecke zwischen Eingangstür und Nachbarkammer ein Kirschholzschrank. Darin das hauchzarte, rot bemalte chinesische Teeservice, in dem die Tante früher Anna in immer gleicher Zeremonie Tee servierte. Danach tranken sie Eierlikör aus kleinen Kristallgläsern. Gelbrote indonesische Schals auf den Schränken. An den Wänden Kunstgewerbearbeiten aus Übersee. Die Reproduktionen der Michelangelopietà und des schlafenden Adam gaben Anna viel von den Schmerzen und Sehnsüchten der Tante preis. Adam, noch nicht angerührt vom Finger Gottes, kurz vor dem Erwachen. Hätte Gott wie der Maler auf Adam geschaut, ihm wäre keine Eva mehr in den Sinn gekommen, dachte Anna spöttisch.

      Im Gespräch mit Mirtschings erzählte Tante Leonie, wie sie Annas Mutter kennengelernt hatte. Beide arbeiteten sie nach dem Krieg in der Gottshuter Erwerbshilfe, die der Bruderbund für die Frauen einrichtete. Soweit Anna bekannt war, wurden amerikanische Kleiderspenden ausgebessert und verschickt. Auch der alte Mann erinnerte sich an Annas Familie, an den Urgroßvater Schlemmin, den Superintendenten. Noch nie hatte Anna einen Gottshuter von ihm sprechen hören. Sie sah den alten Mann ungläubig an.

      Dann erkundigte sich die Tante nach dem Ergehen ihrer Besucher. Fühlst du dich in deiner neuen Stelle wohl, Schwester Mirtsching? fragte sie.

      Oh, mir geht es sehr gut. Die Alten sind ja so dankbar. Und man hat wirklich das Gefühl, gebraucht zu werden.

      Arbeiten Sie in Nischwitz?

      Ja. In den Anstalten. Aber du kannst ruhig du zu mir sagen, Schwester Herrlich. Und wie geht es dir, Schwester Fendel?

      Oh, ich habe Anna schon erzählt. Ich mache große Fortschritte. Aufgeregt tat Tante Leonie ihre Wolldecke von den Knien. Ich werde es euch zeigen. Sie erhob sich.

      Anna fiel wieder auf, wie groß die Tante war.

      Die Jacke hing locker und flach über dem Schlafanzug der Tante. Als Schwerkranke verzichtete sie auf Vortäuschung weiblicher Formen. Mühsam ging sie kleine Schritte bis zur Mitte des Zimmers, Vater und Tochter standen rechts und links bereit, um sie bei einem möglichen Fall aufzufangen. Doch Tante Leonie schwankte nicht, auch nicht, als sie stehen blieb. So, sagte sie. Jetzt zeige ich es euch. Sie deutete mit dem Zeigefinger auf die Füße und drehte sich. Ich kann sie wieder bewegen, ohne dass es mir Schmerzen macht. Und das hat vorher schrecklich wehgetan. In Erinnerung an die Schmerzen verkrampfte sich das Gesicht der Tante.

      Was für Qualen muss sie ausgestanden haben, dachte Anna. Sonst würde sie nie darüber sprechen.

      Immer weiter drehte sich die Tante. Dann ging sie auf ihr Bett zu, klopfte mit der Hand darauf. Ist es nicht gut? sagte sie zu Anna. Extra für mich angefertigt.

      Ja, schön hart, sagte Anna.

      Und auch dahin kann ich wieder allein gehen. Tante Leonie deutete verschämt auf einen mit einem Sitzpolster abgedeckten Stuhl neben dem Bett.

      Alle verstanden, was sie meinte.

      Die Tante legte in kleinen Schritten den Weg zu ihrem Sessel zurück. Erst nachdem sie sich gesetzt hatte, wich die Spannung von Anna und den Mirtschings.

      Das ist wirklich sehr schön, lobte Schwester Mirtsching. Wir freuen uns so für dich! Sie nahm ein kleines Seidenpapierpäckchen aus ihrem Beutel und legte es auf den Tisch. Nur eine Kleinigkeit, Schwester Fendel.

      Aber das war doch nicht nötig. Die Tante hatte wieder ihre volle singende Stimme, die ihr zwischendurch abhandengekommen war.

      O doch. Schwester Mirtsching lächelte.

      Die Tante ergriff mit einiger Mühe das Päckchen und streifte das Band ab.

      Anna tat es weh, wie schwer der Tante diese einfachen Handgriffe wurden.

      Damit machst du mir aber eine Freude, sagte die Tante, nachdem sie einen von Lochmustern durchbrochenen gelben Papierstern ausgewickelt hatte. Er ist sehr, sehr hübsch.

      Wo werden wir ihn hinhängen? fragte Schwester Mirtsching.

      An den Sekretär, dort kann ich ihn gut sehen, schlug Tante Leonie vor.

      Ans Fenster, beschloss Schwester Mirtsching.

      An den Sekretär, sagte Anna und wunderte sich selbst über ihren befehlenden Ton. Der guten Schwester war offensichtlich entgangen, dass Tante Leonie mit dem Rücken zum Fenster saß, immer mit dem Blick auf die Tür, auf den unvermeidlich nächsten Besucher.

      Widerstrebend gehorchte Schwester Mirtsching.

      Aus einer Seitentür der gemeinsamen Wohnung trat Tante Magda, Tante Leonies Schwester, leise grüßend, ohne jemanden anzusehen.

      Anna hörte auf den Klang der völlig gleichen dunklen singenden Stimmen dieser im Wesen wie im Äußeren so unähnlichen Schwestern, die sich nie besonders gut verstanden hatten. Nun war die kleine, kränkliche der großen und starken überlegen. Doch schien sie sich dieser Überlegenheit sehr unsicher zu sein.

      Die Mirtschings gingen. Die Tochter verabschiedete sich mit überschwänglicher Freundlichkeit, der Vater förmlich, wie Anna es von ihrem eigenen Vater kannte, nur zwang sich Bruder Mirtsching zu keinem Lächeln.

      Anna wurde noch von Tante Leonie zurückgehalten.

      Die

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