Eine irische Ballade. David Pawn

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Eine irische Ballade - David Pawn

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Aber inzwischen ist es beinahe sechshundert Jahre her. Ja, so alt bin ich und ich bin eine bean sí, wie die alten Iren sagten oder, wie es heute heißt, eine Banshee, eine Todesfee. Aber das haben Sie sicher erraten.

      Ich kann mich genau an den Tag erinnern, als plötzlich Williams Mutter in unserem Garten vor mir stand, während ich gerade Zwiebeln steckte. Ihre Augen waren rot von den Tränen, die sie in den letzten Tagen um ihren liebsten Sohn vergossen hatte. William hatte sich auf dem Hügel erhängt, weil ich ihn nicht erhört hatte, wie man so sagt.

      William und ich hatten uns auf einem Dorffest kennengelernt. Wir hatten an diesem Tag viel miteinander getanzt und gelacht. In den Wochen danach waren wir immer wieder gemeinsam durch die Felder spaziert. Und, ja, William hatte mich auch küssen dürfen, und einmal hatte er wie zufällig meine Brust gestreichelt. Natürlich war dabei der Stoff des Kleides zwischen meiner Haut und seiner Hand, aber all dies zusammen hatte den Jungen wohl ermutigt.

      Aber ich war damals ein junges, dummes Ding gewesen. Ich hatte ihn ausgelacht, als er mit seinem Strauß Feldblumen und seinem Antrag vor unserer Tür gestanden hatte. Und jetzt stand seine Mutter vor mir wie eine Rachegöttin.

      „Keine Träne“, fauchte sie, „keine einzige Träne hast du vergossen für meinen Sohn.“ Feuer loderte ihn ihren Augen. Sie war wie ein Drache, der jeden Augenblick Flammen und Schwefel auf mich regnen lassen konnte. „Aber du wirst weinen. Du wirst um den Tod jeden Carrs bittere Tränen vergießen bis zum Ende unserer Tage. Und du wirst nie einen besseren finden als meinen William.“ Dann spuckte sie mir ins Gesicht und ging.

      Als sie starb, wusste ich es drei Tage im Voraus und konnte bis zur Nacht ihres Todes die Tränen nicht aufhalten. Wie Bäche flossen sie aus mir heraus. Aber ein so schweres Los, wie Sie vielleicht denken, war dieser Fluch nicht, den die alte Hexe mir auferlegt hatte. Sozusagen als Gegenleistung alterte ich so gut wie nicht mehr. Ich war ein dummes Ding von 17 gewesen, als William gestorben war, und seitdem bin ich alle hundert Jahre biologisch ein Jahr älter geworden. So stand es jedenfalls in einem Buch, aus dem mir Jahre später durch eine andere Banshee immer wieder vorgelesen wurde, um mich zu belehren, bis ich es ihr eines Tages an den Kopf warf. Es war eine Art Lehrbuch der Hexerei und ich habe oft gedacht, Williams Mutter hätte es wohl wiedererkannt.

      Ich wurde also, der Traum jeder Frau, kaum älter. Allerdings konnte ich mich nicht mit Männern einlassen. Es war nicht so, dass sie starben, wenn ich mich ihnen näherte, oder dass ich starb oder zu Staub zerfiel oder so etwas. Nein, irgendetwas an mir warnt die Männer früher oder später und sie ziehen sich zurück. Manchmal war ich mit ihnen bis zur Schlafzimmertür gekommen, und plötzlich waren die Männer diejenigen gewesen, die Kopfschmerzen, Müdigkeit, Übelkeit oder sonst etwas vortäuschten, um den letzten Schritt nicht machen zu müssen.

      Aber jetzt war der letzte Carr gestorben und ich fühlte mich ein wenig haltlos. So viele Jahre hatte ich den Tod eines Carrs mit Tränen und Schluchzen angekündigt, dass sich jetzt eine gewisse Leere in mir ausbreitete, die ich mit einer neuen Familie füllen wollte. Und die Familie dieses Daniel war sehr interessant.

      Ich kehrte aus meinen Erinnerungen zurück und stellte fest, dass ich noch immer in Daniels Augen schaute. Er hatte inzwischen einen Blick, als hätte ich ihn hypnotisiert. Ich hob den Arm und schnipste mit den Fingern vor seinem Gesicht und er schrak zurück.

      „Oh, Verzeihung, ich wollte Sie nicht anstarren. Aber Sie sahen gerade so verträumt aus.“

      „Sagen wir doch du“, erwiderte ich, statt auf seine unausgesprochene Frage, wovon ich geträumt hatte, einzugehen. „Am Spieltisch sagt man immer du. Du bist Daniel, das weiß ich schon. Ich heiße Síochána. Die anderen Profis nennen mich Rabenschwinge, aber das klingt so nach Gruselgeschichte, das mag ich eigentlich nicht.“

      „Gut Schischana, du.“ Daniel sprach es in unvergleichlicher Weise badisch aus und wir stießen an.

      „Das spricht man Schi-chraana. Ist ein alter Name, bedeutet Frieden“, fügte ich hinzu.

      „Habe den Namen noch nie zuvor gehört. Du bist nicht von hier, oder?“, wollte Daniel wissen.

      „Ich komme aus Irland. Ist aber schon ein paar Jahre her, seit ich da weg bin.“

      „Ach, aus Irland“, Daniel staunte, „dafür sprichst du aber perfekt deutsch. Zu Anfang hatte ich auf das Hannöversche getippt. Die sprechen ziemlich akzentfrei da oben.“

      Ich lachte. „Ach, ich spreche zu gut deutsch für die Gegend hier?“

      „Das kann man sagen. Wie lautet unser Motto? Wir können alles – außer Hochdeutsch.“

      „So schlimm ist es auch wieder nicht.“

      Er lächelte, und endlich wirkte es nicht mehr gequält oder erzwungen. Mein Herz machte einen plötzlichen Sprung, und praktisch im gleichen Moment sah ich es und wollte am liebsten sofort auf die Toilette flüchten. Ich hatte meinen neuen Herrn offensichtlich gefunden, denn ich konnte seinen Tod sehen. Heute Nacht!

      Ich wollte schreien. Ich wollte heulen. Ich wollte weinen. Und ich wollte es aufhalten. Ich hatte diesen Wunsch in den vergangenen Jahrhunderten hin und wieder verspürt, vor allem wenn der Tod junge Carrs oder gar Kinder ereilt hatte. Aber nie vorher war dieses Drängen so stark gewesen. ‚Sag was. Tu was. Halt es auf.‘

      Aber die Regeln waren streng. Ich durfte nur wissen und weinen. Ich wusste nicht, was geschehen würde, wenn ich mich nicht daran hielt.

      Daniel sah mich erschrocken an. „Was hast du? Du siehst plötzlich aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

      Ich versuchte ein Lächeln und diesmal war ich es, der es dabei in den Mundwinkeln schmerzte. „Ich hatte mal einen Freund. Sah dir sehr ähnlich.“

      „Und?“, forschte Daniel weiter.

      „Ist gestorben.“ Fast wahr. „War noch nicht mal zwanzig. Du siehst ihm wirklich sehr ähnlich.“

      „Das hört sich unheimlich an“, erwiderte Daniel. „Ich denke aber nicht, dass ich ein Wiedergänger bin.“

      „Nein, nein“, sagte ich und fasste ihn kurz an der Hand. „Es war nur ein Moment. Hat mich ein bisschen überwältigt. Ist schon wieder vorbei. Sonst bin ich eigentlich nicht so zart besaitet.“ Das war eine glatte Lüge. Meine Aufgabe ist es, bei jedem verdammten Todesfall wie ein Schlosshund zu heulen, und das kann ich hervorragend.

      Am Pokertisch jubelte Daniels Freund gerade über einen großen Coup.

      „Dein Freund hat offenbar mehr Glück als du.“

      „Da bin ich mir gar nicht so sicher“, erwiderte Daniel und sah mir direkt ins Gesicht. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken, nicht weil der arme Junge nicht wusste, dass er noch knapp vier Stunden zu leben hatte, sondern weil alles in mir verlangte, diese Zukunft nicht wahr werden zu lassen. Ich griff jetzt fest nach seiner Hand.

      Ich wusste, dass die Regeln unserer Spezies erlauben, den Tod vorauszusehen und im Vorhinein zu trauern, denn nichts anderes ist es, was wir immer und immer wieder tun. Es ist ein böswilliges Gerücht, das behauptet, wir würden den Tod herbeirufen. Ich wusste nicht, was passieren würde, wenn ich von der Regel abwiche, wenn ich nicht trauerte, sondern versuchte der Zukunft eine andere Wendung zu geben.

      Übrigens, wenn Sie denken, Daniel wollte aus dem Leben scheiden, weil er einen großen Pot verloren hatte, ein Kreuzfahrtticket für seine Schwester, dann sind Sie im Irrtum. Es sollte ein dummer Unfall sein. Der

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