Die Midgard-Saga - Hel. Alexandra Bauer
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„Das ist etwas Neues! Wenn ich das nächste Mal in eine Achterbahn steige, wünsche ich mir, dass du mir auch in Todesangst folgst. Danach will ich dich genauso wütend sehen, statt kreideweiß gegen Übelkeit ringend!“ Sie warf sich zurück und hielt sich den Bauch vor Lachen. Als Tom mit einfiel, war es auch um Thea geschehen. Kichernd steckten sie sich gegenseitig in ihrer Ausgelassenheit an, bis sie erschöpft um Atem rangen.
Irgendwann seufzte Juli. „So schön das hier mit euch auch ist, mir friert der Hintern.“ Sie richtete den Blick gleichzeitig mit Thea den Spalt hinab. Noch immer klaffte tiefes Schwarz vor ihnen. Unerwartet drehte sich Juli um und versetzte Thea mit der flachen Hand einen Schlag auf den Arm. „Wie ist das überhaupt möglich, dass ich hier wie angewurzelt hocke? Das ist gewiss deine Schuld! Hast du mir etwas angezaubert?“
„Angezaubert?“, wiederholte Thea die Frage, derweil sie nach der Antwort suchte. Offen gestanden wusste sie nicht, wie sie Juli zum Anhalten gebracht hatte. Thea war einfach ihrem Gefühl gefolgt. Allmählich begriff sie, was Wal-Freya damit meinte, dass Zauberei stets anders sei. „Ich habe keine Ahnung. Aber es hat funktioniert.“
Abermals traf sie Julis Hand. „Spinnst du? Was, wenn du mich in die Luft gejagt hättest wie deine Äpfel?“
Während Thea unter den scharfen Augen ihrer Freundin nach Worten rang, lenkte ein Glucksen Julis Blick zu Tom. Der duckte sich. „Tut mir leid. Du müsstest dich selber sehen.“
„Das ist nicht witzig! Ich verbiete dir, noch einmal mit mir oder an mir zu zaubern, Thea!“
Thea wäre am liebsten im Boden versunken. Sie kannte Julis Abneigung und Ängste gegen Zauberei. Sie war so alt wie die Verbundenheit ihrer Seelen.
„Was ist so lustig?“, schimpfte Juli.
Tom legte die Hand vor den Mund. „Sie wird das tun müssen, wenn du hier nicht für alle Zeiten festkleben willst.“
„Was?“ Julis Zorn traf Thea mitten ins Herz. Entschuldigend presste sie die Lippen zusammen.
Tom hob beschwichtigend die Hände. „Nur keine Angst! Sie hat gerade in einem Selbstversuch bewiesen, dass sie es kann. Sie ist noch in einem Stück, wie du siehst.“
„Sie ist übrigens anwesend“, knurrte Thea, griff in die Tasche und warf das Pulver in die Luft. Ehe sie die Rune hinein zeichnen konnte, wedelte Juli mit den Händen.
„Woh, woh, woh! Moment mal!“, protestierte sie. „Ich habe mein Einverständnis nicht erteilt!“
Thea schenkte ihrer Freundin einen mitleidvollen Blick. Ihr blieb nichts anderes übrig. Erneut schob sie die Hand in die Tasche, warf das Pulver und malte Fehu hinein. Während Juli lauthals reklamierte, beschwor Thea den Zauber.
„Zu Hölle, Thea …“ Julis Ruf entfernte sich ebenso schnell, wie sie aus dem Licht Kyndills entschwand.
„Hinterher! Sonst entkommt sie!“, lachte Tom. Schon umfasste er Theas Taille, rutschte vor und gab ihr mit seinem Körper einen Schubs. In halsbrecherischer Geschwindigkeit sausten sie hinab, Juli dicht auf den Fersen, die ohne Unterlass zeterte.
„Sie wird mich dafür hassen“, jammerte Thea.
„Zehn Minuten lang, dann hat sie es vergessen“, prophezeite Tom.
Irgendwann hatten sie Juli eingeholt. Thea schnappte sie am Kragen und zog sie zu sich heran.
„Glaube ja nicht, dass ich dir diesmal so schnell verzeihen werde!“, kündigte Juli an.
„Es tut mir leid“, erwiderte Thea.
Juli tätschelte Theas Hand. „Ach was! Ich mach nur Spaß!“
Mit Kyndill als einziger Lichtquelle führte sie ihr Weg weiter in die Tiefe. Thea fand das Gefühl unerträglich! Nach zwei Begegnungen mit den nordischen Göttern, in denen sie gezwungen war auf Himmelswagen zu reisen, in einen Brunnen zu springen, als Falke und Schneeeule zu fliegen, und zu guter Letzt auf einem fliegenden Pferd zu reiten, sollte sie sich an das unangenehme Kribbeln, das ihr während dieser Erlebnisse durch den Magen fuhr, gewöhnt haben, doch es wollte ihr nicht gelingen. Dennoch war sie stolz, denn sie war Juli ohne Zögern in den Spalt hinterher gesprungen, obwohl sie geahnt hatte, was sie erwartete. Anfänglich hatte sie gehofft, sie würde sich an das widerliche Gefühl gewöhnen, welches ihr mit jedem neuen Gefälle in den Magen fuhr, aber je länger dieses Martyrium andauerte, umso größer wurde ihre Gewissheit, dass sie sich damit niemals anfreunden würde.
Irgendwann vernahmen die Freunde ein Rauschen, das lauter wurde. Thea wurde zunehmend von Unruhe gepackt. Ebenso wie sie vermuteten ihre Freunde, dass das Geräusch von Wasser herrührte, dass es der Gjöll war, der sich durch den Felsen grub. Thea ging im Geiste den Zauber durch, den Wal-Freya sie die halbe Nacht wieder und immer wieder hatte üben lassen, bis sie ihn im Schlaf beherrschte. Von der nächsten Bodenwelle erfasst, kniff Thea gerade die Augen zu, als Juli einen Schrei ausstieß. Blitzschnell sortierte Thea ihre Sinne. Sie hob Kyndill höher und versuchte unter dem Lichtkegel des Schwertes zu erkennen, was Juli in Panik versetzte. Dann schnappte sie nach Luft. Sie hatten schon lange das Gefühl, dass das Eis dünner würde, jetzt endete es jedoch abrupt und gab den Blick auf einen schroffen Felsweg frei, der wenige Meter später in einen Schlund mündete.
„Bremsen, bremsen, bremsen!“, schrie Juli.
Hektisch griff Thea in ihre Tasche, warf das Pulver, um erneut Fehu hinein zu malen, aber es war zu spät! Juli traf auf den Felsenweg, wurde von der rauen Oberfläche gebremst und schlug hilflos vornüber. Auch Thea wurde von der Kraft gepackt und rollte über ihre Schulter nach vorn. Sie hörte ihren Umhang reißen, als er an einem Felsvorsprung hängen blieb. In einem Reflex ließ sie Kyndill los, drehte sich und packte den Stoff mit beiden Händen, am Kragen, ehe sie sich an ihrem eigenen Umhang erhängen würde. Ein Schmerz fuhr ihr durch die Schulter, als Tom über sie fiel. Dann verlosch Kyndill. Thea hörte Juli schreien und gleich darauf Tom, der sie beschwor, sich festzuhalten. Hektisch rappelte sich Thea auf, löste ihren Umhang und tastete den Boden nach Kyndill ab. Kaum hatte sie die Waffe gefunden, erkannte sie die Lage, in der ihre Freunde steckten. Juli hing von Tom gepackt halb über dem Abgrund. Mit letzter Kraft stemmte er seine Füße gegen den Felsboden. Thea hastete vor und packte Julis linken Arm. Gemeinsam zogen sie Juli zurück auf den Vorsprung. Während Juli erleichtert aus der Gefahrenzone krabbelte, warf Thea einen Blick hinab. Das Felsloch reichte ungefähr fünfzig Meter in die Tiefe. Etwa im selben Abstand warf Gjöll seine Wassermassen auf, die sich brodelnd und schäumend zu Wellen auftürmten. Feiner Nebel waberte auf dem Fluss.
„Verdammt und eins, nächstes Mal sollte Hermodr gucken, wohin die Wege führen, auf die er uns schickt!“, ächzte Juli.
„Sagt ausgerechnet die, die sich als Erste in den Abgrund gestürzt hat“, erwiderte Tom trocken.
„Du nimmst mir die Worte von den Lippen“, stimmte Thea zu.
Achtsam rückte Juli vor und äugte in die Tiefe. „Und jetzt?“
„Ich weiß nicht. Es sieht so aus, als würde die Öffnung mitten über dem See liegen“, raunte Thea.
Tom rümpfte die Nase. „Runter kommen mag einfach sein, aber wie sollen wir später nur zurückkommen?“
„Darüber sollten wir uns erst den Kopf zerbrechen, wenn es soweit ist. Wir müssen Skidbladnir irgendwie zu Wasser lassen, ansonsten können