Michelle. Reiner Kotulla

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Michelle - Reiner Kotulla

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       Zehn

      Drei Tage vergingen. An jedem Morgen hatte er überlegt, ob er zum Bahnhof fahren sollte, nahm es sich vor, um die Sehnsucht zu lindern, ließ es dann aber doch. Dann, am vierten Tag, öffnete er seine E-Mails und hoffte auf Ablenkung durch eine Nachricht von Michelle.

       von: [email protected]

       Ich hab ihm alles erzählt, wollte ihn verlassen. Er rannte aus unserer Wohnung, sprang ins Auto. Als es klingelte, und ich die Tür öffnete, wusste ich es, ohne dass der Polizist ein Wort hätte sagen müssen. Absicht oder nicht, keiner weiß es.

       Ich fühle mich schuldig. Bitte melde dich nicht.

       Borjanka

       Elf

       von: [email protected]

       Hallo Herr Fabuschewski,

       wenn ich heute darüber nachdenke, wie alles hatte so kommen können, glaube ich, dass, ganz allgemein gesehen, die Ursachen für unser Verhalten in unserer jeweiligen Vergangenheit begründet sind.

       So weiß ich von Klaus Wagners Mutter, dass sie nie berufstätig gewesen war. Sie hätte sich, sagte er einmal, immer vorbildlich um seinen Vater gekümmert. Deshalb wollte Klaus auch nicht, dass ich im Bistro arbeitete. Er verdiene genug Geld, dass ich zu Hause bleiben und mich um den Haushalt kümmern könne. Trotzdem verlangte er von mir nicht, dass ich jeden Tag für uns kochte. Oft lud er mich zum Essen in ein Lokal ein, wo ich mir bestellen konnte, was ich wollte.

       Vielleicht, weil ich gerade darüber schreibe, fällt mir etwas ein, was mit dem Essen eigentlich nichts zu tun hat. Eines Abends waren wir beim Wirt am Dom. Sie kennen das Lokal. Dort waren wir zusammen mit Ihnen nach Ihrem Einzug in die Wohnung Am Fischmarkt. An dem Abend, über den ich berichten möchte, hatten Klaus und ich Pizza bestellt und waren schon beim Essen, als die Tür aufging und ein junger Mann im Rollstuhl hereingeschoben wurde. Der Wirt eilte sofort herbei und schob einen Tisch so zurecht, dass für den Mann im Rollstuhl und seine Begleiterin ausreichend Platz vorhanden war. Ich saß mit dem Rücken zu diesem Tisch. Klaus Wagner sprach wenig, schaute immer wieder hinüber zu dem anderen Tisch. Seinem Gesichtsausdruck konnte ich entnehmen, dass ihn irgendetwas störte. Ich schaute mich um und sah, wie die Begleiterin den Mann im Rollstuhl fütterte.

       Nach einiger Zeit, Klaus hatte seine Pizza etwa zur Hälfte aufgegessen, legte er Messer und Gabel zur Seite und erklärte, dass es ihm nicht mehr schmecke. Er rief den Wirt und bat um die Rechnung. Der fragte uns, ob etwas nicht in Ordnung wäre, und Klaus antwortete: „Durchaus, doch heute ist die Pizza wohl besonders groß geraten.“ Auch ich hatte aufgehört zu essen. Fast kam es mir wie eine Flucht vor, als wir das Lokal verließen. Auf dem Weg bis zu unserer Wohnung sprachen wir nicht.

       Zu Hause goss sich Klaus Wagner ein Wasserglas halb voll mit Whisky und nahm sogleich einen großen Schluck davon. Ich setzte mich ihm gegenüber und wartete. „Mir ist der Appetit vergangen“, begann er auch bald. „Wenn du gesehen hättest, wie der gefressen hat – wie ein Tier. Solche Leute sind doch eigentlich gar keine Menschen. Wahrscheinlich wissen die doch gar nicht, dass sie auf der Welt sind.“

       Ich wusste zunächst nichts darauf zu sagen, erinnerte mich aber an meine Großmutter. Die hatte mir von Hadamar erzählt, dass dort Tausende Menschen ermordet worden sind, die als lebensunwert galten. Geistig oder körperlich behinderte Frauen, Männer und Kinder. Eins dieser Kinder hatte sie persönlich gekannt. Es war körperbehindert, wurde von seiner Mutter liebevoll umsorgt. Eines Tages sei die Mutter von Lieselotte, so hieß das Mädchen, zu meiner Großmutter gekommen und habe ihr die Angst beschrieben, die sie davor hatte, dass man ihre Tochter abholen würde. Meine Großmutter wusste von der Euthanasie und hatte auch schon von Hadamar gehört. Sie riet der Nachbarin, Lieselotte zu verstecken. Beide verabredeten, überall zu erzählen, dass das Kind jetzt bei Verwandten in Italien lebe. Jemand aus der Nachbarschaft jedoch musste wohl etwas beobachtet haben, denn eines Tages hielt ein Lieferwagen vor der Tür der Nachbarin. Drei Männer seien in das Haus eingedrungen, und meine Oma habe kurz darauf die Schreie der Mutter gehört. Einer der Männer habe Lieselotte aus dem Haus und in den Lieferwagen verfrachtet, während die anderen beiden die Mutter festgehalten hätten, die schreiend um sich getreten habe. Meine Großmutter erzählte, dass sie sich heute noch große Vorwürfe dafür mache, weil sie ihrer Nachbarin damals nicht geholfen hatte. Frau Schulz, die Mutter von Lieselotte, habe von diesem Tag an nichts mehr gegessen und sei bald krank geworden, hätte aber jegliche Hilfe abgelehnt. Meine Oma hat sie dann, weil sie die Frau schon drei Tage nicht mehr gesehen hatte, aufgesucht und im Bett liegend gefunden – verhungert.

       Klaus muss noch mehr geredet haben, aber weil ich in Gedanken bei dem war, was meine Oma erzählt hatte, nahm ich zunächst seine Worte nicht wahr. Doch dann hörte ich ihn wieder: „Und was das kostet, und dazu noch die faulen Ausländer, die hier ein Kind nach dem anderen machen, die wir mit durchfüttern müssen.“

      „Entschuldige, ich habe nicht richtig zugehört.“

      „Ach, vergiss es einfach“, war alles, was er noch sagte.

       Im Bett wurde er wieder ganz zärtlich und ich, ich dumme Gans, täuschte sogar noch einen Orgasmus vor.

       Am nächsten Tag, wir saßen zusammen im Wohnzimmer und tranken ein Glas Wein, erzählte ich von meiner Großmutter. Klaus hörte scheinbar interessiert zu. „Eine schlimme Geschichte“, war alles, was er anschließend sagte. Ich aber nahm mir vor, der Sache auf den Grund zu gehen.

       Davon demnächst.

       Ihre Michelle

      Was hatte sie wohl gemeint, so fragte sich Alexander Fabuschewski, mit „auf den Grund gehen“?

       Zwölf

      Am Abend erhielt Alexander Fabuschewski Besuch von seinem Vater. Sie saßen zusammen im Wohnzimmer. Alexander hatte zwei Flaschen kellerkaltes Bier auf den Tisch gestellt. Beide verzichteten auf Gläser. Peter Fabuschewski berichtete darüber, dass er mit Marine Nowak eine Reise nach Mecklenburg unternehmen wollte, weshalb er die Arbeit an seinem Projekt „Rechtsextreme in Wetzlar“ unterbrechen würde.

      „Wo genau fahrt ihr hin?“, fragte Alexander.

      „Unser grobes Ziel ist Güstrow, wo wir uns vor ein paar Jahren kennengelernt haben. Marina hat dort Bekannte, die ein Haus am Plauer See besitzen. Dort können wir wohnen.“

      „Ich verstehe, die alte Heimat.“

      „Sicher auch ein Grund. Das ist schon erstaunlich. Wenn mich jemand vor zwanzig Jahren gefragt hätte, was mir zum Begriff Heimat einfiele, hätte ich geantwortet, dass ich mich dort, wo es mir gut ginge, wohlfühlte, egal, wo ich herkäme. Heute würde ich antworten: flaches Land, Sand, Wasser, Birken und Kiefern. Vielleicht liegt das darin begründet, dass ich älter geworden und damit mehr rückwärtsgerichtet denke.“

      „So etwas wie Heimweh?“

      „Vielleicht, aber als einen Schmerz empfinde ich es nicht. Eher als eine Form von Geborgenheit, die ich fühle, wenn ich mit dem Auto in

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