Narrseval in Bresel. Gerhard Gemke

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Narrseval in Bresel - Gerhard Gemke

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„Naseeeee!“, brüllte Herr Sterz.

       Iffigenie wendete freudestrahlend den Kopf und jubelte mit allen Breselnern im Chor „…“, schon klar. Als sie ihren Kopf zurückdrehte, waren Robin und Felin verschwunden. Iffigenie blickte erst den langen dürren Kerl hinter dem Wohltätigkeits-Stand an, dann den kleinen Dicken, der genauso pechschwarz geschminkt war wie die Bohnenstange.

       „Wo sind sie hin?“

       Ehe der Lange oder der Dicke antworten konnte, sagte Lisa schnell: „Zum Sarglüften.“

       „Zum Sarglüften?“ Auch diese Breselner Spezialität war Schwester Iffigenie entfallen, wie jedes Jahr. Sie sah Lisa fragend an.

       „Lisa“, sagte Lisa.

       „Aber …“

       Lisa lächelte. „Nase?“

       „Brelau“, murmelte Iffigenie. Wie hieß noch gleich der Stand, vor dem sie stand? EDU . Und was glotzen die beiden Schwarzbemalten sie an? Der Dicke reichte ihr ein Prospekt. Erbarme Dich Unser versprach die Überschrift. Helfen Sie uns, wir helfen den Armen . Iffigenie schaute erstaunt auf ihre Arme.

       „Naseeeee!“

       Die Pflicht rief.

       „Brelau!“

       Als Lisa den Eingang des Urbanturms erreichte, hatte sich davor schon eine Schlange gebildet. Auch hier von Jo keine Spur. Lisa stellte sich hinten an. Etwas weiter vorn erklärte Freddie gerade, dass das Sarglüften noch das Witzigste am ganzen Narrseval sei.

       „So, findest du?“ Elfriede Sievers schob sich grinsend vor Freddie in die Reihe und war komplett taub für die unwirschen Proteste vom Ende der Schlange. Und Freddies Blicke verrieten die Mühe, mit der er Elfriedes Leben rettete. Also die Anstrengung, mit der seine rechte Hand die linke festhielt und umgekehrt, bevor die sich gemeinsam auf die Oma stürzen konnten.

       Gut, dass jetzt die Turmtür geöffnet wurde. Ein freundlicher Herr in den Fünfzigern mit einem winzigen Tirolerhütchen bat die Besucher in das ehrwürdige Gemäuer und schob jeden einzeln in den engen Gang. Er nickte den drei Jungs zu, begrüßte Lisa mit einer formvollendeten Verbeugung und wollte gerade die Pforte schließen, als das unglücklichste Gesicht der Stadt den Turm betrat. Dreizehn Jahre alt, rückenlanger dunkler Zopf und ein Blick wie drei Seiten Strafarbeit. Sie nickte dem Mann unter dem Tirolerhütchen mit zusammengepressten Lippen zu. Clemens Zuffhausen hob die Augenbrauen und schloss die Turmtür.

       Lisa hatte das Mädchen mit dem traurigen Blick bereits entdeckt und erwartete sie an den Treppenstufen, die zum Turmfundament hinab führten.

       „Jo! Da bist du ja endlich! Ich hab dich überall gesucht.“

       Jo lächelte gequält. „Ich musste sie erst abhängen.“

       Lisa ahnte Böses. „Deine netten Cousins?“

       „Und Tante Adelgunde.“

       Also noch viel schlimmer. Jos liebe Verwandtschaft war ins Städtchen eingefallen – eine regelmäßig wiederkehrende Plage wie der Narrseval – und hatte sich auf Burg Knittelstein eingenistet, Jos Wohnsitz. Liebe Tochter, nur einmal mit ihnen über den Marktplatz , hatte ihr Herr Papa gesagt. Baron Eduard selbst musste dringend einige unaufschiebbare Geschäfte … leider, leider, du verstehst? Und ob Jo verstand!

       Mit hängendem Kopf folgte Jo ihrer Freundin die Treppe hinunter und in die hinterste Ecke des Kellergewölbes, wo bereits Jan, Freddie und der langhaarige Ulli warteten und sich gegenseitig beschuldigten, die Raumluft mit nicht wohlduftenden Partikeln angereichert zu haben. Worauf sich Oma Sievers zwischen sie drängelte, geräuschvoll schnüffelte, und auf der Stelle die alte Geschichte vom Kunibald-Furz zum Besten gab.

       Ja, da vorn im Sarg, da liegt er, der Ritter, und stinkt. „Und heulen tut er, jawohl.“

       „Ich hör nix“, sagte Freddie.

       „Nicht jetzt, sondern immer …“

       „… bei Vollmond“, ergänzte Freddie mit unbeweglichem Gesicht.

       „Mach dich nicht über mich lustig!“ Elfriede drohte Freddie mit einem der knochigen Zeigefinger.

       Freddie hob abwehrend die Hände. „Aber Oma Sievers, was denkst du von mir!“

       Elfriedes Gesicht sprach Bände.

       „Meine Damen und Herren, verehrte Gäste aus den umliegenden Gemeinden, liebe Breselnärrinnen und Narren!“

       Es wurde still unter der niedrigen Gewölbedecke. Sämtliche Gruftbesucher wandten ihre Aufmerksamkeit Clemens Zuffhausen zu, der vor einem mannshohen weißen Vorhang stand und sein Tirolerhütchen zurechtrückte. Dann fasste er mit spitzen Fingern einen Zipfel des Vorhangs. „Der Sarg von Ritter Kunibald!“

       Mit einem eleganten Schwung, den er in der vergangenen Woche gewissenhaft geübt hatte, zog er den Schleier beiseite.

       „Aaaah!“

       Ein steinerner Trog kam zum Vorschein, schlicht und grau, auf einem hüfthohen Sockel. Darunter ein Fußbodenmosaik aus fünf mal fünf Quadraten, mit elefantenbeindicken Säulen auf den vier Eckfeldern, die zuverlässig die Last des Urbanturms trugen. Hoffentlich. Rechts und links vom Sarg hatten sich je zwei Herren in mittelalterlicher Tracht aufgebaut und bemühten sich um würdige Gesichter.

       „Ooooh!“

       Diese vier offiziell beauftragten Sarglüfter befestigten nun an den Seiten des Sargdeckels stabile Taue, die zu einer Seilwinde an der Gewölbedecke führten und von dort zurück in die Fäuste der vier Herren. Während sich nun der Sargdeckel nach überliefertem Ritual Zentimeter für Zentimeter hob, wurde er von traditionsbewussten Breselner ausgiebig beschnüffelt, um das Aroma zu bestimmen, das der berühmte Kunibald-Furz in diesem Jahr verströmte. Manche Breselner allerdings beschnupperte mehr oder weniger unauffällig ihre Nachbarn.

       Endlich hatte der Sargdeckel die Gewölbedecke erreicht. Der vorderen Reihe gelang ein Blick in den Steintrog und die Information wurde bis nach hinten weitergereicht: Alle sieben Knochen lagen noch an ihrem Platz.

      

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