Leben - Erben - Sterben. Charlie Meyer

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Leben - Erben - Sterben - Charlie Meyer

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Wüste ein Iglu zu bauen, wenn er seine Ruhe haben wollte.

      Wie sollte ich auch ahnen, dass er meinen Scherz aufgreifen und auf seine ganz eigene Art umsetzen würde.

      Im Laufe der Jahre war entlang der Weser ein durchgehender Radwanderweg entstanden, der von Hannoversch-Münden bis runter zur Nordsee führte. Ein Teilstück davon war zu Eikos neuer Heimat geworden. Hameln lag etwa in der Mitte dieser Strecke und diente ihm als Versorgungsstützpunkt. Seit dem letzten Sommer pendelte er zwischen Holzminden und Minden unermüdlich hin und her. Mittlerweile besaß er ein Paar Satteltaschen und übernachtete auf Campingplätzen oder wo immer sich ein Eckchen für das Zweimannzelt fand, das er seinem Vater aus dem Keller stibitzt hatte. Schlösser waren für meinen Sohn von klein auf ebensowenig ein Problem gewesen wie das Knacken der E-Mail-Passwörter seiner Lehrer oder das nahezu perfekte vom Blatt spielen Carulli’scher und Carcassi’scher Gitarrenetüden. Falls sich Eiko irgendwann einmal entscheiden sollte, seinen IQ von 162 mit Verstand zu händeln - den ich ihm mittlerweile gern auch gewaltsam einbleuen würde - könnte der Welt ein neuer Nobelpreisträger entgegenwachsen, der erste Mensch auf dem Mars, ein begnadeter Dichter oder Paganini auf der Gitarre. Oder einfach nur der raffinierteste Hacker des Universums.

      Stattdessen strampelte er Tag für Tag mit dem Wind und gegen den Wind den Weserradweg entlang. Flussaufwärts von Holzminden nach Minden, dann Kehrtwendung um hundertachtzig Grad und flussabwärts zurück zum Ausgangspunkt. In schwachen Momenten sah ich ihn direkt in die Psychiatrie des Landeskrankenhauses strampeln. Am Anfang hatte ich in meiner Wut und Hilflosigkeit erst das Jugendamt und dann sogar die Polizei auf ihn gehetzt, aber wie ein Aal schlängelte er sich zwischen all den Händen hindurch, die ihn aufzuhalten suchten. Immerhin konnte ich mich damit trösten, nicht vollends aus seinem Leben verbannt zu sein. Wenn er etwas brauchte, brach er bei mir ein.

      Dem Himmel sei Dank lag ihm offenbar nichts daran, mich oder seinen Vater durch einen langsamen Drogenselbstmord zu bestrafen. Er nahm weder Crack noch Heroin noch experimentierte er mit Fliegenpilzen oder Purpurweiden herum. Er las auch nicht Huxley oder Carlos Castaneda. Er holte sich seine psychedelischen Kicks schlicht und ergreifend beim Radfahren.

      Seine einzige Verbindung zur realen Welt bildete eine kleine rechteckige Plastikkarte, mit der er Schlösser knackte und Geld aus dem Automaten holte. Sein Vater überwies ihm Unterhalt auf ein Konto, und ich stockte auf, soweit ich konnte. Von dem Geld auf dem Konto zahlte er seine Übernachtungen, aber für den sonstigen Bedarf zog es Eiko vor einzubrechen, unsere Kühl- und Kleiderschränke zu plündern, Seife vom Wannenrand und die Käsecracker direkt vom Teller zu klauen. Er lebte sparsam.

      Keiner von uns beiden hatte ihn je in flagranti erwischt. Erwischt hatte ich mich lediglich selbst, und zwar bei der Eifersucht, dass er nicht nur mich, seine leibliche Mutter beklaute, sondern auch diesen Kerl, der mich zwei Monate nach Eikos Ausstieg endgültig gegen ein gemütliches Junggesellenleben mit wechselnden Freundinnen eintauschte. Ausgezogen war er schon vorher. Nach siebzehn Jahren friedlichen Zusammenraufens, in denen wir nie auf die Idee gekommen waren zu heiraten. Wir lebten einfach unter einem Dach und zogen unser Kind groß. Bis Hartz IV kam und mir die staatliche Unterstützung zu streichen drohte, weil Uwe nach Meinung des Staates ausreichend verdiente, seine kleine Familie allein durchzufüttern. Da zog er aus und suchte sich Hals über Kopf eine eigene Wohnung, so schnell, dass mir ganz eigenartige Gedanken kamen. Sie bewahrheiteten sich an dem Tag, als er seine DVD-Sammlung abholte und ganz nebenbei unter unsere Beziehung einen Schlussstrich zog. Er habe eine andere.

      Ich schlich durchs Treppenhaus in der Hoffnung, mit meinen verschwiemelten Augen ungesehen entkommen zu können. Dann schlich ich wieder hoch, weil mir die offenen Dachfenster einfielen und die Kaffeemaschine, die noch immer leise vor sich hinröchelte. Ich taperte von Zimmer zu Zimmer, und wieder überkam mich das deprimierende Gefühl, durch eine verlassene Leprastation zu irren. Alle anderen waren als geheilt entlassen worden, nur ich Aussätzige hatte zu bleiben, bis mir Nase, Ohren und Brüste abgefault waren.

      Zugegebenermaßen war es eine Leprastation mit Ausblick. Aus den Giebelfenstern überblickte ich ab dem Süntel nordwärts alle Hügel des Wesergebirges und darüber einen Himmel, der Zweidrittel des Bildes für sich beanspruchte. Trotzdem kam ich mir vor wie Hermann der Cherusker, der an der Porta Westfalica auf immer zu steinerner Untätigkeit verbannt seinem Sieg über Varus hinterhertrauert. Die guten alten Zeiten waren vorbei. Es gab Stunden, da geriet ich in Versuchung, Eiko nachzueifern und aus diesem Jammertal des Lebens einfach auszusteigen. Es musste ja nicht der Radweg sein, ich könnte zum Beispiel den Kamm des Wesergebirges entlangwandern, Hügel für Hügel, bis ich auf dem letzten Hügel, dem Jakobsberg oberhalb von Porta, ankam. Dann könnte ich über die Weser aufs Wiehengebirge spucken, auf den Hacken kehrtmachen und zurückwandern. Tag für Tag und Jahr für Jahr.

      Doch im Gegensatz zu Eiko fehlte mir der Mut.

      Es war ein Fehler, einen letzten Blick in den Spiegel zu werfen, bevor ich erneut die Tür hinter mir ins Schloss zog. Rotäugig, x-beinig und die Schultern auf Höhe der Brüste, das typische Bild der Delia A. Pusch an einem depressiven Katermorgen wie diesem. Es nützte auch nichts, mir die fahlblonden Haare zu einem Pferdeschwanz hochzubinden oder mich mit meinen haselnussbraunen, von schwarzen Wimpern beschatteten Augen zu trösten, denen es nicht besonders schwer fiel, One-Night-Stands an Land zu ziehen, auch wenn ihnen die Fähigkeit festzuhalten offenbar abging. An diesem Tag allerdings mochten sie nicht einmal einen Blinden becircen, verborgen in all dem aufgedunsenen Fleisch.

      Mein Hollandfahrrad lehnte wie gewöhnlich an der Garage zum Nachbargrundstück. Während alle anderen Fahrräder unter Büschen und Bäumen im tiefen Schatten standen, ließ ich meins in praller Sonne leiden. Warum sollte es ihm besser gehen als mir? Meistens sah es ohnehin so aus, wie ich mich fühlte: alt, verschlissen und schmutzig.

      Wie immer, bevor ich auf Jagd ging, hatte ich vorher herumtelefoniert. Daher wusste ich, dass Eiko die vorletzte Nacht in Polle und die letzte auf dem Campingplatz des Grohnder Fährhauses verbracht hatte, demnach also weserabwärts Richtung Hameln unterwegs war. Ob ich ihn erwischte, hing von seinem Instinkt ab. Es konnte sein, dass er mir ahnungslos entgegengeradelt kam, es konnte allerdings auch sein, dass er mich mehr oder minder erwartete und mit Uwes Fernrohr irgendwo auf der Lauer lag und den Radweg beobachtete. Als ich ihn das erste Mal, kurz nach seinem Verschwinden, jagte - es war ebenfalls Hochsommer gewesen - begegneten wir uns tatsächlich. Auf dem schnurgeraden Weserdamm bei Tündern. Er radelte Richtung Hameln, ich kam von dort. Wir erkannten uns zur selben Zeit und reagierten beide hektisch. Eiko mit einer abrupten Kehrwendung, bevor er - ein Zentaur aus Fleisch, Reifen und Rost - davonraste, und ich mit Gebrüll und verzweifeltem Hinterherstrampeln. Ich stand in den Pedalen und nahm, jenseits aller Vernunft, von ohnmächtiger Wut getrieben, die Verfolgung auf. Vierzig Kilometer lang schnaufte ich wie ein Walross hinter ihm her, obgleich ich ihn die letzten dreißig Kilometer nicht einmal mehr sah. Wahrscheinlich hatte er sich längst seitwärts in die Büsche geschlagen. Am Fähranleger in Polle, der Burg geradewegs gegenüber, fielen das Fahrrad und ich einfach um und wurden mit Hitzekrämpfen ins Krankenhaus nach Holzminden abtransportiert. Ich hätte eine Flasche Wasser einpacken sollen, bevor ich bei über dreißig Grad den Schatten eines Phantoms jagte.

      Die Fahrradsaison war längst in vollem Gange. Ich hatte noch nicht einmal die Stadtgrenze erreicht, als mir auch schon die ersten Radwanderer mit entschlossenen Mienen und dickem Gepäck entgegenstrampelten. Sie mussten vor Tau und Tag aufgebrochen sein und sahen so proper und fit aus, dass ich mich noch elender fühlte. Fröhliche Grüß Gotts, Hallos und Hi‘s schallten mir entgegen - einmal sogar ein Pfiat di von jenseits der Weißwurstgrenze - doch ich fühlte mich nicht in der Stimmung zurückzugrüßen. Mir war danach, mein Kind zu verprügeln, meinem Exmann mit einer Schrotflinte den Kopf wegzublasen und anschließend mit mir selbst die Flusskrebse zu füttern. Sogar die Krähe, die sich mit einem kleinen Aal im Schnabel kopflastig gerade noch ans Ufer rettete, bevor sie wie ein Lehmklumpen auf die Kiesel klatschte, vermochte mich an diesem Tag nicht aufzumuntern. Die Moral dieser Aktion - du kannst alles schaffen, wenn du es nur

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