Leben - Erben - Sterben. Charlie Meyer

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Leben - Erben - Sterben - Charlie Meyer

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neben mir plumpsen ließ. Ihre schwere Hand tätschelte meinen Oberschenkel, und ich wagte nicht, mich zu rühren. Erst jetzt sah ich den Aktenstapel auf ihrem überquellenden Schoß und schauderte unter bösen Ahnungen zusammen. Der Name auf der oberen Akte lautete Delia A. Pusch, Bedarfsgemeinschaft Nr. ... Es folgte eine endlose Aneinanderreihung unsinniger Zahlen und Buchstaben. Panik überkam mich. Was machte die Schulze mit meiner Akte? Konnte es sein, dass sie ...?

      Nein, nie im Leben! Ich wusste zwar, dass die zuständige Schicksalsgöttin gern Schabernack mit mir spielte, aber ums Verrecken würde sie nicht so weit gehen.

      Oder doch?

      „Ist das nicht erstaunlich, wie sich nach all den Jahren unsere Schicksale wieder kreuzen? Weißt du noch, wie du mir die Reißzwecke auf den Stuhl gelegt hast?“ Die anderen Hartz IV-Opfer im Flur hielten den Atem an. Reißzwecke auf Stuhl klang vielversprechend, doch Ingeborg Schulze beabsichtige offenbar nicht, ihren Wissensdurst zu stillen. „Okay, dann wollen wir mal.“ Sie schaukelte sich auf ihrem Stuhl in Position und schlug meine Akte auf. „Mein Name ist Schulze, ich bin deine Fallmanagerin im Jobcenter. Nun erzähl mal brav, welche Anstrengungen du seit deinem letzten Auftritt hier bei uns unternommen hast, in Lohn und Brot zu kommen? Nur zu, keine falsche Bescheidenheit. Ich höre.“

      Ich starrte sie ungläubig an. „Moment mal, meine Jobvermittlerin heißt Rodenberg, und ich weigere mich aufs aller Entschiedenste, sie gegen dich einzutauschen. Ohne persönlich werden zu wollen, Ingeborg, aber du und ich, wir beide mochten uns noch nie. So etwas nennt man Befangenheit, und zwar eine doppelseitige. Ich verlange eine Fallmanagerin, der ich keine Reißzwecke auf den Stuhl gelegt habe. Die Rodenberg! Wir schwimmen auf der gleichen Wellenlänge, verstehst du? Ich bewerbe mich, und sie behandelt mich fair. Wie ein Mensch, nicht wie ein Hartz IV-Empfänger. Außerdem denke ich nicht einmal im Traum daran, mich von wem auch immer auf dem Flur abfertigen zu lassen. Ich bin durchaus für eine gläserne Bürokratie, aber deine Vorstellung davon geht mir entschieden zu weit.“ Ich geriet zunehmend in Fahrt. „Warum fertigt ihr uns nicht gleich auf der Rathausterrasse ab? Der Rattenfänger flötet die Nationalhymne, und anschließend treten wir Hartz IV’ler mit Hand aufs Herz zum Fahneneid an: Ich schwöre beim Bart des Propheten, dass ich mich bewerbe und nichts als bewerbe, so wahr mir Gott helfe. Vergiss es. Ich will Frau Rodenberg. Ich will in ein Büro.“

      Ein beifälliges Raunen pflanzte sich den Flur hinunter. Auch ich war nicht unstolz auf mich, wenn auch ein wenig außer Atem nach meinem spontanen Plädoyer für die Rechte der Geknechteten. Eine der zahlreichen Lebensphilosophien meines verstorbenen Großvaters lautete: Erfolg ist eine Frage des Auftretens.

      „Du willst nicht in mein Büro, vertrau mir. Sieh es als Akt der Barmherzigkeit an, wenn ich dich hier draußen oder auf der Rathausterrasse abkanzele. Und was Frau Rodenberg betrifft, so hat sie leider die Seiten gewechselt.“ Ingeborgs dröhnendes Lachen ließ alle die Köpfe einziehen. „Dummerweise ist sie zu euch faulem Gesindel übergelaufen. Oh, Entschuldigung, das war politisch wohl inkorrekt. Ich meinte natürlich, zu euch armen, halb verhungerten Sozialfällen, die ihr so fleißig sucht und doch nicht fündig werdet. Sie ist gefeuert worden, den Herren der obersten Etage missfiel ihr lascher Stil. Sie weigerte sich doch tatsächlich, ihren Schützlingen mal so richtig in den Arsch zu treten, auf dass sie sich läutern und die Arbeit auch wirklich finden. In-cre-di-ble, wie der Engländer zu sagen pflegt!“ Sie betonte jede Silbe einzeln. „Und siehe da, urplötzlich ist sie selbst ein Schaf in meiner großen, glücklichen Herde geworden. Tja, manchmal pisst dir das Schicksal doppelt ans Bein. Aber es wird mir ein Vergnügen sein, ihre verqueren Ansichten von der Welt und ihrer Stellung darin wieder geradezurücken. Apropos wieder Geraderücken: Was hältst du von einem gemeinsamen Mittagessen? Nur du und ich und unsere Erinnerungen. Denkst du noch manchmal an das Kaugummi in meiner Federtasche? Oder daran, wie du mich auf dem Pausenhof angesprungen und mir ein Stück aus der Schulter gebissen hast?“ Es gibt Menschen, deren dämonisches Lächeln ohne Anstrengung überzeugt. Mir war es nie gelungen. Ich hatte es eine Weile an Eiko erprobt, wenn ich ihm ein bedrohliches Tu’s und du wirst schon sehen! übermitteln wollte, mir aber lediglich ein Grinsen eingehandelt.

      Ich spürte die gespannten und hoffnungsvollen Blicke meiner Leidensgenossen rings umher auf mir ruhen. Sie sprachen Bände: Sag ihr, sie kann dich mal. Wehr dich, du feiges Huhn. Tu’s für dich. Tu’s für uns. Beweis uns, dass dieses beschissene Leben noch einen Sinn hat.

      „Über ein gemeinsames Essen können wir sprechen, sobald ...“ Die Hölle zugefroren ist, wollte ich sagen, biss mir jedoch noch rechtzeitig auf die Zunge, da mir mittlerweile eine gewisse Abhängigkeit von ihrem Wohlwollen bewusst geworden war. „... wir uns in deinem Büro befinden. Ich bestehe mit allem Nachdruck auf der Einhaltung des Datenschutzes. Kein Tête-à-Tête im Flur!“

      Ingeborg stemmte sich lächelnd in die Höhe. „Wie du willst, aber es wird dir nicht gefallen.“

      Ich erhob mich ebenfalls, wild entschlossen, meine Würde bis zum bitteren Ende zu verteidigen.

      „Ich ruf dich auf, wenn du an der Reihe bist“, sagte Ingeborg milde, drückte mich auf den Stuhl zurück und tauschte die Akten aus. Meine kam nach unten. „Jemand hier, der Buschhelm heißt?“ Unter ihrem durchdringenden Blick schob sich ein schmächtiger Jüngling Richtung Ausgang. „Hey, wenn Sie der Buschhelm sind, geht’s hier entlang.“ Er erstarrte, die Hand schon auf der Glastür ins Treppenhaus, doch nun zog er sie gehorsam wieder zurück und folgte dem Ruf seines übergewichtigen Schicksals. Entrinnen konnte er ihm nicht, aber vielleicht ließ sich der Schaden begrenzen. Die Blicke, die ihm folgten, schwankten zwischen Mitleid und Angst, diejenigen, die auf mir ruhten zwischen Häme und Verachtung.

      Ich lehnte mich zurück auf meinem angeschraubten Plastikstuhl und versuchte, meine Wut nicht überkochen zu lassen. Die Welt in Vertretung von Ingeborg Schulze war dabei, einen weiteren Nagel in meinen Sarg zu hämmern. Ich konnte nur hoffen, dass er diesmal mein Herz durchbohrte, und die arme Seele endlich Ruhe fand. Hartz IV hatte unsere Familie zerstört, also war es nur recht und billig, dass es mich auch von meinen letalen Qualen erlöste. Als das Gesetz nicht mehr als ein drohender Nebelstreif am Horizont war, rechnete mir Uwe bereits die Unwirtschaftlichkeit seines weiteren Aufenthaltes in unserer gemeinsamen Wohnung vor. Bliebe er, müsste allein er sowohl für die Miete als auch für meinen Unterhalt aufkommen. Zöge er vorübergehend in eine eigene Wohnung, zahle er zwar die Miete für die neue Wohnung, spare sich jedoch den Unterhalt. Schweren Herzens ließ ich ihn ziehen, nahm mir jedoch vor, so schnell wie möglich Arbeit zu finden und zweifelte nicht den Bruchteil einer Sekunde an unserer Partnerschaft. Sobald ich einen Job hatte, würden Uwe und ich offiziell wieder zusammenleben. Natürlich! Was auch sonst? Schließlich wollte ich mit ihm alt werden und nahm wie selbstverständlich an, er mit mir ebenfalls. Doch dann kam alles anders. Uwe nahm die Buchstaben des Gesetzes allzu wörtlich und zog nicht nur auf dem Papier aus. Einige Wochen später verschwand Eiko, und Uwe hob, ohne zu zögern, die Axt, die ihm sein Sohn damit in die Hand gedrückt hatte, und kappte das Band zwischen uns endgültig. Wer seinem Partner siebzehn Jahre lang die eigenen Schwächen frei Haus liefert, fordert im Fall einer Katastrophe die Schuldzuweisungen geradezu heraus.

      Nachdem mich Sohn und Mann auf meiner Leprastation zum Abfaulen zurückließen, fiel ich in ein Loch, so tief wie der Marianengraben. Ich rannte Uwe die Bude ein, ich jagte hinter Eiko her, ich schleppte Zufallsbekanntschaften ins Bett und betrank mich vor dem Fernseher. Arbeit fand ich auf diese Weise keine. Nach wie vor sorgte Vater Staat dafür, dass ich nicht verhungerte, allerdings zum Preis, alle sechs Wochen demütig zu Kreuze kriechen zu müssen. Obgleich ich mit Frau Rodenberg, meiner dritten Fallmanagerin a. D. - ihre Vorgängerinnen hatten das Jobcenter fluchtartig wieder verlassen - tatsächlich einen Glückstreffer gelandet hatte. Allerdings war es auch nicht so, dass ich mich in den vergangenen zwölf Monaten überhaupt nicht um Arbeit bemüht hatte. Ich begann ernsthaft zu suchen, sobald ich anfing, die Wände des Marianengrabens wieder hochzukraxeln. Zurzeit klebte ich irgendwo auf halber Höhe, während unter mir der Weiße Hai sein Maul aufriss, bereit,

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