Sonnenwarm und Regensanft - Band 4. Agnes M. Holdborg
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Doch er forderte sie nicht auf, sich überdies beim Angeklagten zu entschuldigen, was dessen Verteidiger wiederum gar nicht gefiel. Nach einem Blickwechsel mit Annas blitzenden Saphiraugen gab der allerdings keine zusätzlichen Äußerungen dazu ab. Und nach einem weiteren kurzen Augenkontakt mit Anna strich er stattdessen seinem nach wie vor heulenden Mandanten einmal väterlich über den Rücken, obwohl der deutlich älter als sein Anwalt zu sein schien. Daraufhin stellte der Angeklagte sein in Annas Ohren und Augen lächerliches Wimmern und kindisches Verhalten wieder ein. …
Viktor beobachtete Anna aufmerksam. Augenscheinlich dachte sie auch weiterhin gründlich über all das nach, was während ihrer Zeugenaussage vorhin im Gerichtssaal geschehen war.
»Du oder Vitus, einer von euch beiden hat den Richter und den Verteidiger beeinflusst, nicht wahr?«, wollte sie dann wissen. »Man hätte mich eigentlich für meinen Super-Auftritt bestrafen müssen, rügen, oder wie man so was nennt, hat es aber nicht getan.«
»Nein, Anna, das warst du selbst. Du hast alle beide manipuliert. Nicht ich. Nicht Vitus.«
»Was?« Anna war so schnell hochgeschossen, dass ihr offensichtlich gleich wieder schwindelig wurde und sie sich deshalb zurück in die Kissen sinken ließ. »Ich?« Sie sah Viktor mit immer noch trüben Augen an. »Ich kann so was doch gar nicht.«
Viktor runzelte nachdenklich die Stirn. »Anscheinend doch, Kleines. Wie Vitus schon sagte: Du lernst ständig dazu.« Jetzt lächelte er verschmitzt. »Du hast eine gute Linke, Süße. Das hat bis nach draußen geknallt. Ich hab‘s gehört und natürlich in dir gesehen. Du warst einfach großartig.«
»Lass das, Viktor«, erwiderte Anna unwirsch. »Das hätte mir nicht passieren dürfen. Ich hab das alles viel zu nah an mich rangelassen. Ich …«
Jetzt war es an ihm, unwirsch zu werden. »Sag mal, spinnst du?«, rief er entrüstet dazwischen. »Wem sollte das Ganze wohl nahegehen, wenn nicht dir? Dieser Typ hat dir Gewalt angetan, er wollte …« Viktor unterbrach sich selbst und schüttelte den Kopf. »Allein beim Gedanken daran flippe ich aus.«
Sein Blick bohrte sich in ihren. »Anna, wenn du das nicht getan hättest und wenn Vitus mich nicht mental zurückgehalten hätte, ich wäre bestimmt nicht straffrei da rausgegangen, glaub mir. Ich hätte den Kerl fertiggemacht, richtig fertig.«
»Hättest du nicht, Viktor. Du hast es gewollt, ja. Aber du hättest es für mich bleiben lassen, damit ich mir keine Sorgen machen muss. Es wäre schließlich nicht besonders schlau, sollten die Behörden dich allzu sehr durchleuchten. Du hast zwar eine menschliche deutsche Mutter, eine ordentliche Geburtsurkunde, auch einen Pass und Führerschein und all so was. Trotzdem wäre es riskant, mehr von dir preiszugeben. Denk an Marius. Es ist nicht klug, die Neugierde anderer Menschen zu wecken.«
Sie richtete sich langsam wieder auf, nahm eines der Brote zur Hand und biss vorsichtig hinein.
»Ja, das stimmt natürlich.« Er nahm sich auch ein Brot. »Trotzdem fiel es mir schwer. Deshalb ist es nur recht, dass du ihm eine runtergehauen hast, sozusagen stellvertretend für mich.«
Schwach lächelnd kaute sie zu Ende und spülte den Bissen mit einem großen Schluck Cola hinunter, so, als ob das Essen nicht richtig rutschen wollte.
»Ich dachte, ich käme besser damit zurecht, Viktor. Ich dachte, ich hätte es im Griff und nichts würde mir mehr Angst machen als die Aussicht, dich zu verlieren. Zugegeben, so einfach war es wohl doch nicht. Ich musste mich erst richtig von dem Scheusal befreien, es körperlich spüren. Ich glaube, auf diese, nun ja, etwas dramatische Art und Weise ist mir das gelungen.« Geistesabwesend biss sie noch einmal in ihr Brot. »So langsam geht es mir besser.«
»Bleib trotzdem noch ein Weilchen liegen, Süße. Ich mach uns einen Kamillentee. Dann lege ich mich zu dir, ja?« Viktor stand auf, um erneut in die Küche zu gehen.
Anna hielt ihn jedoch am Hemdärmel fest. »Er wird bestraft und kommt vorerst nicht mehr raus, nicht wahr?«
»Ganz bestimmt«, beruhigte Viktor sie. Dabei behielt er für sich, dass auch er den Richter und den Verteidiger, ja, sogar den Staatsanwalt ein kleines bisschen empathisch beeinflusst hatte. »Wir haben unsere Aussagen gemacht. Das werden die anderen betroffenen Mädchen ebenfalls tun, genau wie die Lehrer und auch die Polizisten, die damals seine Wohnung gestürmt haben.« Ein grimmiger Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Außerdem bricht dieser Jammerlappen sowieso bald zusammen und wird endlich vollständig gestehen. Es wird also alles gut.«
Mit diesen Worten löste er sich von ihr und verließ das Wohnzimmer. Als er wiederkam, fielen Anna gerade die Augen zu. Behutsam nahm er ihr sowohl das angebissene Brot aus der Hand als auch die Brille von der Nase, schob Anna sachte etwas zur Seite und kuschelte sich neben sie unter die Decke. Bald legte sich auch bei ihm die Müdigkeit mit entspannender Ruhe und Schlaf über die aufgewühlten Sinne.
***
Sie wurde durch das Klirren von Schlüsseln am Wohnungseingang geweckt und von munteren Stimmen, die zu ihr drangen. Kurz darauf öffnete sich die Wohnzimmertür.
Anna brauchte einen Augenblick zum Wachwerden. Sie hatte sich irgendetwas Sonderbares, Unheimliches zusammengeträumt. Noch schläfrig verdrängte sie die letzten Schleier des Traums, an den sie sich bereits in der Sekunde nicht mehr erinnern konnte, in der sie die Augen aufgeschlagen hatte.
Ihr Bruder samt Freundin trat ein. Noch nahm Anna lediglich Jens‘ sandfarbenes Haar sowie Silvis schulterlange braune Mähne wahr. Blinzelnd tastete sie über Viktor hinweg nach ihrer Brille.
»Oh, Entschuldigung. Wir wussten nicht, dass ihr hier seid. Habt ihr geschlafen?«
Sobald Annas Brille auf ihrer Nase saß, schärfte sich das Bild. Jens grinste in der ihm typischen Art. Auf Silvis hübsches Gesicht legte sich ein Lächeln.
Inzwischen war auch Viktor aufgewacht, streckte sich, sagte aber nichts.
Jens ging in betont