Sonnenwarm und Regensanft - Band 4. Agnes M. Holdborg
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Bei der Erinnerung überfiel sie für einen winzigen Augenblick die gleiche ohnmächtige Leere und überwältigende Panik wie damals, als Viktor scheinbar nicht mehr mit ihr zusammen sein wollte. In dieser Sekunde wurde ihr deutlich, wie sehr ihr die Trennung seinerzeit zu schaffen gemacht hatte. Mehr als die Angst, in der Gewalt eines Wahnsinnigen zu sein.
»Der Mann kommt nicht mehr frei, Viktor. Er ist verrückt. Der ist immerhin schon jetzt in der Klapse. Außerdem habe ich noch Glück gehabt. Andere Mädchen hat er schließlich tatsächlich missbraucht.« Dass der Mann allerdings, im Gegensatz zu seinen anderen Opfern, Anna hatte töten wollen, ließ sie lieber außer Acht. »Ihr habt mich davor bewahrt.« Sie strich ihm zärtlich über die Wange. »Es war für uns beide eine schlimme Zeit. Lass uns einfach die Verhandlung hinter uns bringen und danach nicht mehr drüber nachdenken.«
Sie gab ihm einen kleinen Kuss. »Du wirst dich während deiner Aussage im Griff haben, das weiß ich. Das weiß ich, weil du mich liebst. Mach dir deshalb keine Sorgen.« Sie legte sich zurück in seine Arme.
Er streichelte versonnen ihre Schulter. »Es tut mir leid, dass ich damals so mies reagiert und dir derart wehgetan habe.«
»Nicht, Viktor! Wir haben beide dumme Fehler gemacht. Aber das ist vorbei. Lass es uns endlich abhaken. Bitte!«
Viktor seufzte schwer. »Ich kann das nicht einfach abhaken. Mir ist doch klar, wie sehr dich die Sache nach wie vor mitnimmt, auch wenn du es andauernd abstreitest. Ist dir mal aufgefallen, dass du das meistens rein gedanklich tust und selten laut aussprichst?« Er richtete sich auf, um ihr besser in die Augen schauen zu können. »Du hast sogar die Schule gewechselt, weil dich die Erinnerungen nicht losgelassen haben. Nicht nur, weil du dort obendrein gemobbt worden bist.«
»An der neuen Schule fühle ich mich erheblich wohler. Das weißt du. Mir geht‘s gut.«
***
… Allerdings erkannte Anna nicht, dass Viktor sehr wohl gewahr wurde, wie sich ihr Herz bei dem Gedanken an die Zeit an ihrem alten Gymnasium schmerzlich zusammenzog. Offenbar konnte sie sich nie an die Albträume erinnern, die sie regelmäßig heimsuchten und aus denen er sie äußerst behutsam zu befreien versuchte. Das zeigte ihm, wie sehr sie das Ganze bedrückte. Dass diese schlimmen Erinnerungen und Träume zum Großteil auf sein eigenwilliges Verhalten von damals zurückzuführen waren, belastete ihn schwer.
Elfen vermochten Vieles zu vollbringen. Selbst als »nur« halbmenschlicher Elfe konnte Viktor Gedanken erspüren und beeinflussen. Überhaupt waren ihm, aufgrund des Erbes seines machtvollen Vaters, inzwischen viele Dinge möglich: die eigene innere Sonnenwärme spenden; dem Feuer per Geisteskraft zündende Nahrung geben; dem Himmel Blitze stehlen und dem Wetter eine andere Richtung geben. Das waren nur einige der Talente der Elfen. Seine Schwester Viktoria nahm sogar manchmal Visionen aus der Zukunft wahr. – Aber die Zeit zurückdrehen, das ging nun mal nicht. Das konnte nicht einmal sein überaus mächtiger Vater. …
Trotz dieser kurzen verschlossenen Grübeleien legte Viktor sich wieder hin, ließ währenddessen seine Hand unter Annas Achsel hindurchkrabbeln und suchte zielstrebig ihre Brust. »Ich glaube, du solltest mir beim Abhaken dieser ganzen Angelegenheit unbedingt behilflich sein, Kleines.« Er grinste sie verschmitzt an. »Dazu brauche ich jegliche seelische und körperliche Unterstützung, die du mir geben kannst. Das ist sehr, sehr wichtig.«
Wie üblich brauchte er nicht lang, um Anna zum Schmelzen zu bringen. Schon war das Zimmer, wie bereits in der Nacht zuvor, mit seinem Sonnenschein erfüllt, und sie gaben sich gegenseitig das, was sie nun am allermeisten brauchten.
***
Als Lena die Schlossküche betrat, flötete Anna: »Oh, hallo Schwesterherz, schön dich zu sehen.«
Das heitere Lächeln ihrer fast drei Jahre jüngeren Schwester ließ Lena unangenehm berührt und verlegen zur Seite schauen, während sie Hand in Hand mit ihrem sehr großen Freund Sentran, einem von Vitus‘ sechs Elitewachmännern, Richtung Küchentisch ging. Eigentlich hatte sie gehofft, dass um diese Zeit niemand mehr frühstücken würde. Doch war dem nicht so.
»Ja, hallo«, gab sie kleinlaut zurück.
Anscheinend war ihr Denken dabei wieder einmal so laut, dass Anna vergnügt weiterlächelte. »Du musst nicht mit zum Gericht kommen, Lena«, erklärte sie. »Es reicht mir völlig, dass Papa Nebenkläger ist und Mama im Publikum sitzt. Viktor und ich werden da hingehen, aussagen und hoffentlich schnell wieder abhauen. Du und Jens, ihr müsst nicht auch noch dort aufkreuzen.« Anna legte den Kopf schief und sah Lena mit zusammengekniffenen Augen an. »Du bist schon seit Längerem hier im Schloss, nicht wahr? Sentran hat dich bereits gestern abgeholt, wie ich gehört habe. Hast du dich wirklich nicht getraut, mit mir zu reden?«
Jetzt fühlte Lena eine heiße Röte in sich aufsteigen. »Äh, tut mir leid«, druckste sie herum. »Ich dachte, du wärst vielleicht beleidigt, weil ich nicht dorthin will. Ich, ich … Mir wäre dabei nicht wohl, glaub ich.«
… Sie und Anna teilten das Schicksal, entführt worden zu sein. Auch Lena war erst kurze Zeit zuvor gewaltsam verschleppt worden. Und zwar von ihrem Ex-Freund Marius, einem Journalisten, der Lenas Wissen über die Elfen hatte aus ihr herauspressen wollen und gedroht hatte, ihr etwas anzutun, wenn man ihm die geforderten Informationen nicht gäbe. Bei ihrer Befreiung war Viktor beinahe getötet worden.
Offenbar war es gar nicht gut für die geistige Gesundheit, sich mit den Schwestern und demzufolge mit den Elfen anzulegen, denn beide Kidnapper verbrachten ihre Tage inzwischen in der Psychiatrie.
Trotzdem, die Erinnerung daran bereitete Lena nach wie vor Bauchschmerzen. Die Gerichtsverhandlung, so fürchtete sie, könnte sie noch mehr aus den Tritt bringen. …
»Lena, du musst mich nicht begleiten. Das ich hab dir doch von Anfang an klar und deutlich zu verstehen gegeben.«
Dass Anna sich weiterhin über ihre Verlegenheit zu amüsieren schien, half Lena keineswegs. So trat sie von einem Fuß auf den anderen