Die Villa. Jacques Varicourt

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Die Villa - Jacques Varicourt

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Birgit nahm begeistert an einem Pflichtjahr für Mädchen auf einem Bauernhof teil, all das geschah so um 1936 herum. Die Olympischen Sommerspiele genossen wir, also alle die zu unserer Familie dazugehörten, in Berlin. Es war unsagbar schön, ich filmte mit einer Handkamera so viel es mir möglich war, ich war wie losgelöst, ich jubelte, ich konnte einmal, durch ein Fernglas den Führer sehen, wie er dem Geschehen der Wettkämpfe beiwohnte, er war ebenfalls von der Leistung der deutschen Sportler sichtlich angetan. Seine blauen Augen verrieten den Stolz den er fühlte, der mit jeder Medaille an einen Deutschen verliehen wurde, noch dazu wenn unsere Nationalhymne erklang, sie war mir noch Jahre später, im Gedächtnis haften geblieben, denn ich finde - damals, da hörte sie sich noch gewaltiger und eindringender an, als bei anderen Anlässen, nach dem zweiten Weltkrieg. Ja, all das empfand ich als richtig, als einen fast perfekten Staat, der zudem gut funktionierte; dass hinter der Kulisse Verbrechen geschahen, nun, man hörte so etwas, man nahm es so hin, man schob es aber auch sofort wieder beiseite, um sich damit gar nicht erst großartig zu beschäftigen. Jeder hatte seine Aufgabe gefunden, jeder war endlich vom Spuk der Vergangenheit, die soviel Enttäuschung und Armut gebracht hatte, befreit. Und um ganz ehrlich zu sein: „Wir waren alle glücklich, wir liebten Volk und Vaterland inbrünstig, denn es ging ja „fast“ allen, endlich wieder so gut, dass niemand hungern musste.“

      Dass Hitler die Spitze der „SA“ beseitigen ließ, na ja, auch das wurde im Nachhinein als legitim und notwendig angesehen. Röhm, der Führer der SA war eine Un-Person geworden, nicht zuletzt aufgrund seiner Vorliebe für junge Männer, die er sich aus Schulen und Universitäten zukommen ließ, um sich an ihnen zu vergehen. Im Volke war man froh, dass dieses Schwein endlich weg war, aber auch im kleinen Kreis fiel sein Name, der mit so viel Schmutz behaftet war, überhaupt nicht mehr. Deutschland brauchte nur einen Führer und der hieß „Adolf Hitler“, er tat das Richtige, er wollte uns wieder als Sieger und nicht als Besiegte sehen. Dafür waren wir ihm, ausnahmslos alle, dankbar, und ich spendete eine weitere, beachtliche Summe in die Parteikasse der NSDAP, worauf ich einen langen Brief, sowie eine goldene Anstecknadel der Parteiführung von Hamburg erhielt, ich hätte vor Stolz platzen können. „Nun hast du es offensichtlich geschafft,“ sagte Carina zu mir, „nun bist du einer von ihnen, und nun darfst du die Freiheiten genießen, nach denen du dich immer so sehr gesehnt hast.“ Das war zwar nicht ganz richtig, weil mir die Parteiführung es immer noch übel nahm, dass ich einmal mit einer Jüdin ein Techtelmechtel gehabt hatte, aber die anerkennende Bewunderung von Carina sprach eine Sprache, die mir durchaus gefallen hatte. Und auch Herr Rösser, der mich für viele Jahre eher ignorierte, als dass er mich wahrnahm, grüßte mich von nun an mit einer wohlkalkulierten, bis ins Überschwängliche gehenden Genugtuung, angesichts meiner Anstecknadel, wenn wir uns am Samstagvormittag, auf den Weg zur Sitzbank an der Elbe begegneten. Rösser, mittlerweile leicht angegraut und boshafter denn je, erklärte mir häufig, in all den Jahren in denen wir uns anfreundeten, die Wichtigkeit von Zeitabläufen, besonders von dem, was man daraus lernen könnte, um späteren Generationen die Last der Erkundung ihrer vergangenen Fehler grundlegend zu erleichtern. Seine Meinung deckte sich mit der allgemeinen Auffassung, dass man selbst etwas schaffen muss und nicht geschenkt bekommt; dass ich selbständig war, dass ich von eigenen Einkünften den Lebensunterhalt meiner Familie bestritt, war ihm anscheinend völlig entgangen. Wahrscheinlich lag es daran, dass er seine Söhne, wohlbehütet in die Hände einer nationalsozialistischen Organisationen gegeben hatte, und er nun der Auffassung war: Seine beiden zukünftigen Generäle, gehören nun zu einer Elite, zu der nicht jeder Zugang haben würde.

      Rösser war nicht nur Faschist und Patriot, er glaubte auch allen Ernstes, dass „Er“ und seine Frau, seine Söhne nicht zu vergessen, dem Führer, dem Volk, den Nachbarn, vielleicht auch der ganzen Welt etwas mehr zu bieten hatten, als der gewöhnliche, durchschnittliche Bürger, der ebenfalls vom Faschismus überzeugt war. Selbst meine goldene Anstecknadel der Partei war für ihn lediglich „eine“ Auszeichnung von vielen, die man ohne weiteres erreichen konnte; ja, er argumentierte so elitär, weil er als Weltkriegsveteran, für sich, für seine Frau, nicht zu vergessen für seine beiden militanten Söhne, innerhalb der Familie einen anderen Wert darstellte als ich zum Beispiel. Ich war ihm nicht radikal genug, ich hatte ihm zu wenig Biss. Natürlich sagte er mir das nicht direkt ins Gesicht, aber ich begriff, dass er, sich, für etwas Auserwähltes hielt, dennoch versuchten ich und Carina zu Familie Rösser ein freundschaftliches Nachbarschaftsverhältnis aufrecht zu erhalten, mit allem, was dazu gehörte, auch wenn es einem „wahrlich“ nicht leicht fiel.

      Es war so um die Weihnachtszeit 1936 herum, ich hatte gerade die Filmleinwand aufgestellt, den Projektor in Position gebracht, mir ein Bier auf den Tisch gestellt, die Familie komplett versammelt, da klingelte es an der Haustür, Herr Rösser, den ich neuerdings „Ludwig“ nennen durfte, stand mit Schneeflocken, über und über bedeckt, vor mir und bat um Einlass. Seiner Frau (Elisabeth Rösser) ginge es sehr schlecht, das Fieber, welches zwar keimtötend wirkt, aber ab einer bestimmten Höhe zur Gefahr für den Körper werden kann, hatte Besitz von Elisabeth ergriffen; Elisabeth wimmerte, sie hatte mit allem Schluss gemacht, sie wollte sterben, sie konnte es nicht ertragen, dass ausgerechnet sie das Bett hüten sollte, und das auch noch für längere Zeit. Ich bat Ludwig in die Küche, denn in mir war das Interesse geweckt, dabei goss ich ihm einen Korn ein, er setzte sich, sichtlich betroffen, mitleid erregend, sowie vom Hausarzt Dr. Feldermann zutiefst enttäuscht - wie er sich ausdrückte, weil dessen Diagnose nicht den Ernst der Lage widerspiegelte, in der sich nach Ludwigs Meinung, seine Ehefrau befand. Ludwig Rösser, der sonst immer so eiskalt, so ausgekocht und so stark erschien, wirkte wie ein Fisch dem man den Köder weggenommen hatte, er hatte jegliche Contenance verloren, er war fertig, er brauchte noch einen zweiten und noch einen dritten Korn, um seine Nerven einigermaßen zu beruhigen. Die Art wie er erzählte, war die Art eines gebrochenen Mannes, der alles an Hoffnung aufgegeben hatte, obwohl es keine wirkliche Veranlassung dafür gab. Aus dem etwas wirren Bericht den Rösser ablieferte ließ sich heraushören, dass Elisabeth zwar über dem Damm war, also, dass ihrer Genesung nichts mehr im Wege stehe, aber selbst der Hausarzt soll geäußert haben: „Man müsse vorsichtig sein, damit es keinen akuten Rückfall gebe.“ Und dieser eine, eigentlich eher harmlose Satz, hatte den ehemaligen Weltkriegsveteran - Ludwig Rösser, so derartig aus der Bahn geworfen, dass er bei uns, die er jahrelang ignoriert hatte, Trost und Schutz suchte. Denn auch er, der sich in jüngeren Jahren zusammen mit seiner Gattin, für die Schulmedizin interessierte, befürchtete einen akuten Rückfall. Mein Eindruck war, dass beide, Herr und Frau Rösser, vornehmlich Hypochonder waren, denen, ein realer Bezug zur Erkrankung, egal welches Organ auch betroffen ist, völlig fehlte. Rössers hatten sich in ihrer Angst, vorab, vor dem Eintreffen des Arztes, gegenseitig mit den Auswirkungen einer Influenza hochgeschaukelt, und waren somit Opfer ihrer Einbildungsgabe geworden, der sie am Ende, nach dem Besuch des Hausarztes, auch weiterhin aufsitzen sollten. Ich sah mich vor einem unlösbaren Problem stehen, wie sollte ich helfen? Wie sollte ich dem eisernen Zaun der Gedankenkraft entgegen treten? Ich hatte keine Idee, ich zögerte, ich tastete mich dennoch langsam an den verzweifelten und mittlerweile leicht angesoffenen Ludwig heran, aber er hatte die Schotten seines Kopfes längst dicht gemacht, und befand sich, nachdem er nicht mehr Herr seiner Sinne war, auf dem Heimweg.

      Tage später, kurz vorm Heiligen Abend, erblickte ich in den frühen Morgenstunden Herrn und Frau Rösser; wie er sie behutsam und fürsorglich ausführte; beide stapften vorsichtig durch den frisch gefallenen Schnee, welcher sich auf die Landschaft gelegt hatte, um sie, die Landschaft, etwas freundlicher erscheinen zu lassen. Madame Rösser war also endlich über den Berg, und er, der besorgte Ernährer der Familie, hatte sein seelisches Tief offenbar auch gut überwunden. Als ich das Fenster von meinem Arbeitszimmer öffnete, blickten beide zu mir auf, sie lächelte - vom Schrecken der Krankheit endlich erholt, und er winkte mir auffallend freundlich sowie gut gelaunt zu, er nickte mit dem Kopf so, als wollte er sagen: „Wir haben es geschafft. Die Krankheit ist besiegt, der Feind ist tot, jetzt könnte man zum Alltäglichen übergehen und neu beginnen! Denn, ein akuter Rückfall scheint ausgeschlossen.“ Erst sehr viel später erfuhr ich, dass Frau Rösser eine schwere Bronchitis gehabt hatte, sie, die immer Sport getrieben hatte, sie, die sich immer gesund ernährte, sie, die Alkohol und Nikotin verfluchte, sie, ausgerechnet „sie“ war das Opfer einer Saison bedingten Krankheit geworden. Für ihn, der nicht minder asketisch lebte, waren die monumentalen

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