DAS BUCH ANDRAS I. Eberhard Weidner

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DAS BUCH ANDRAS I - Eberhard Weidner DAS BUCH ANDRAS

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in meinen Händen zu richten, und stellte überrascht fest, dass ich es fallen gelassen hatte, ohne es bemerkt zu haben. Es war verkehrt herum auf der Tischplatte gelandet. Ich nahm es wieder zur Hand und drehte es um. Es zeigte natürlich noch immer dasselbe Motiv wie zuvor, doch als ich es nun betrachtete, hatte ich nicht mehr das Gefühl, in das Bild hineingezogen zu werden. Die verschlungenen Vertiefungen auf der Oberfläche des Altars waren noch vorhanden, doch sie blieben ein wirres Durcheinander von Linien und formten sich nicht länger zu Schreckensbildern. Stattdessen bemerkte ich nun zahlreiche dunkle Flecken, die mir zuvor entgangen waren und sich nur dadurch von der Schwärze des Altars abhoben, weil sie im Gegensatz zu diesem glänzten und das Licht zurückwarfen. Dabei musste es sich um die Blutspuren handeln, von denen der Kriminalbeamte gesprochen hatte und die von meinem Bruder Andras stammen sollten.

      Andras.

      Der Klang, den allein der Gedanke an diesen Namen in mir erzeugte, hallte erneut wie ein dumpfer Glockenschlag in meinem Verstand nach und überzeugte mich davon, dass mir dieser Name nicht gänzlich unbekannt war. Das war aber auch nicht verwunderlich, schließlich war es der Name meines leiblichen Bruders. Ansonsten löste er jedoch nichts aus, vor allem keine Erinnerungen an mein vergangenes Leben. Ich betrachtete ein letztes Mal die vielen Blutflecken und dachte, dass es sich in der Tat um eine große Menge Blut handeln musste, die auf diesem Altar vergossen worden war. War Andras überhaupt noch am Leben? Aber warum war dann seine Leiche nicht ebenfalls am Tatort gefunden worden, so wie die Körper meiner Eltern? Bedeutete nicht schon dieser Umstand, das Fehlen seines Leichnams, dass er noch am Leben war, wenn auch unter Umständen schwer verletzt? In einer Geste der Rat- und Hilflosigkeit zuckte ich mit den Schultern. Immer wieder tauchten neue verwirrende Fragen auf, bevor ich auch nur die geringste Chance hatte, Antworten auf ein paar alte Fragen zu bekommen. Da ich das erdrückende Gefühl hatte, all die neuen unbeantwortbaren Fragen würden meinen Verstand verstopfen und mich am Nachdenken hindern, steckte ich sie kurzerhand in die überquellende Schublade zu den anderen Problemen und konzentrierte mich stattdessen wieder auf die Fotografie in meiner Hand.

      Da ich keine neuen Details darauf erkennen konnte, legte ich die Aufnahme auf die erste und griff nach der nächsten. Ich spürte, dass Dr. Jantzen mich während alldem aufmerksam musterte, sah jedoch nicht auf, sondern hielt den Blick krampfhaft auf das zehn mal fünfzehn Zentimeter große Bild in meinen Händen gerichtet.

      Ich schluckte schwer, als ich das Motiv erkannte. Es handelte sich um die Aufnahme eines auf dem Boden liegenden Menschen, dessen Umrisse auf dem Beton mit weißer Farbe nachgezeichnet waren. Der Fotograf musste sich weit über den Körper gebeugt haben, um diese Aufnahme zustande zu bringen, denn die Kamera schien direkt über der ausgestreckten Gestalt zu schweben.

      Mit war natürlich sofort klar, dass ich die Fotografie einer der beiden Leichen vor mir hatte, die bei der Totalansicht des Kellerraums gnädigerweise gefehlt hatten. Aber nun kam ich nicht mehr darum herum, mich mit ihrem Anblick zu konfrontieren. Natürlich hätte ich das Foto auch einfach zu den anderen legen können, ohne es mir genauer anzusehen. Aber mir war sofort bewusst, dass ich das nicht tun konnte. Denn im Nachhinein hätte ich mich nur immer und immer wieder gefragt, ob es meinem Gedächtnis vielleicht auf die Sprünge geholfen hätte, wenn ich mir die Bilder der Leichname nur länger und vor allem genauer angesehen hätte.

      Ich schloss die Augen, zählte in Gedanken bis zehn und versuchte in dieser Zeit, meine Gefühle zu analysieren, ohne dabei vom Anblick der Leiche irritiert zu werden. Ich stellte fest, dass das Wissen, dass die dargestellte Person auf dem Foto nicht nur tot, sondern sogar ermordet worden war, mir erhebliches Unbehagen bereitete. Aber das war im Grunde auch schon alles, was ich empfand.

      Ich öffnete die Augen wieder und betrachtete nun genauer, was auf dem Lichtbild zu sehen war. Im ersten Augenblick wirkte es beinahe so, als wäre mit der abgebildeten Frau alles in Ordnung. Es hatte ganz den Anschein, als hätte sie sich freiwillig für den Fotografen auf den Boden gelegt, um dort kurz den Atem anzuhalten und für eine gelungene Aufnahme, beispielsweise für ein Modemagazin, zu posieren – auch wenn es sich in diesem Fall um spezielle Abendgarderobe für den modebewussten Satanisten handelte. Aber nach und nach, als fielen Stück für Stück die Teile eines Puzzles an ihren angestammten Platz, fügten sich die übrigen erschreckenden Einzelheiten ins Bild und veranschaulichten die ganze grausame Wahrheit hinter der Aufnahme.

      Da war zum Beispiel die höchst unnatürliche Haltung, in der die Gliedmaßen vom Körper abgewinkelt waren. Außerdem die Risse in der schwarzen, samten glänzenden Kutte, durch die teilweise bleiche Haut und dunkles Blut sichtbar waren. Ferner die gespenstisch anmutende Fahlheit der Gesichtshaut und die Leblosigkeit und Starre in den weit aufgerissenen Augen. Und schließlich die klaffende Wunde, die sich wie eine Kette aus dunkelrot glitzernden Perlen um ihren Hals gelegt hatte, und die Lache getrockneten Blutes, die sich wie ein dunkler See unter der Frau auf dem Steinboden ausgebreitet hatte.

      All diese Mosaiksteinchen sprachen für sich und in ihrer erschreckenden Gesamtheit eine mehr als deutliche Sprache. Die Frau auf dem Bild war mausetot, und nichts und niemand auf dieser Welt würde daran etwas ändern können.

      Nachdem ich all diese Anzeichen eines gewaltsamen, furchtbaren Todes registriert hatte, blendete ich sie nach und nach wieder aus, denn sie waren für mich, sobald ich sie wahrgenommen hatte, nicht mehr wichtig. Viel bedeutsamer waren für mich das Gesicht und die Identität der Toten, bei der es sich schließlich um meine Mutter handelte, an die ich keinerlei bewusste Erinnerung als lebende und atmende Person besaß.

      Beinahe zärtlich ließ ich meine Augen über ihr langes, wie bei einem Fächer auf dem Beton ausgebreitetes Haar gleiten, dessen weizenblonde Färbung zu unnatürlich wirkte, um echt zu sein, und das an der Kopfhaut bereits dunkelbraun nachwuchs. Aufmerksam ließ ich meinen Blick über jeden einzelnen Quadratzentimeter ihres gleichmäßig geformten, schmalen Gesichts wandern, über die hochstehenden Wangenknochen und das spitze, zierlich wirkende Kinn, als wollte ich mir alles ganz genau einprägen. Gleichzeitig stellte ich mir Lebendigkeit und Wärme in ihren braunen Augen vor, was mir jedoch nicht gelang. Ich versuchte, die im Tode erstarrten Züge der Frau vor meinem inneren Auge mit Leben zu erfüllen, und bemühte mich, die sprachlosen Lippen zu einem Lächeln zu zwingen. Durch all dies wollte ich etwas Vertrautes in ihrem Gesicht entdecken und gleichzeitig auch etwas in mir selbst finden, und sei es auch noch so tief in meinem Innersten vergraben, das mir bewies, dass ich diese Frau gekannt hatte und mich an sie erinnerte. Schließlich war sie diejenige, die mich jahrelang zu Bett gebracht, mir unter Umständen Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen, mich in meinem Kummer getröstet und vor Freude mit mir gelacht hatte. Doch all meine Bemühungen halfen mir nicht im Geringsten, eine zarte Erinnerung an oder auch nur den Anflug eines Gefühls für diese Person hervorzurufen. Alles, was ich empfinden konnte, war lediglich Bedauern über die Tatsache und die schreckliche Art ihres Todes, so wie für jeden anderen auch. Ansonsten blieb die Tote auf der Fotografie nicht nur tot, sondern eine absolut Fremde für mich.

      Ich seufzte und öffnete die Finger, sodass das Foto mir aus den Händen glitt und auf die Tischplatte fiel, wo es bei den übrigen landete.

      »Es hat keinen Sinn«, sagte ich laut und an niemanden im Speziellen gerichtet. »Die Fotos bringen auch nichts. Wenn ich nicht einmal etwas Vertrautes im Gesicht meiner eigenen Mutter erkenne, was soll mir dann überhaupt noch helfen?«

      Ich zog eine düstere Miene und sah auf, um die Reaktionen der beiden am Tisch sitzenden Männer auf meine resignierenden Worte zu beobachten. Dr. Jantzen nickte zustimmend, als hätte er die ganze Zeit gewusst, dass es so kommen würde. Doch Hauptkommissar Gehrmann war anscheinend noch nicht bereit, so schnell aufzugeben. Er wirkte in diesem Moment auf mich wie ein Bluthund, der die Fährte schon aufgenommen hatte und nun nicht mehr lockerlassen würde, bis er sein Jagdziel erreicht und die Beute erlegt hatte.

      »Warum sehen Sie sich nicht erst noch die übrigen Fotos an, bevor Sie die Flinte ins Korn werfen?«, versuchte er an mein Gewissen oder mein Pflichtbewusstsein – vielleicht auch an beides – zu appellieren.

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