Kirche im freien Fall. Cristina Fabry

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Kirche im freien Fall - Cristina Fabry

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AIDS hat im Laufe der Jahre mehrere Millionen Menschen getötet und bis heute gibt es weder Impfung noch Heilung – von zwei Ausnahmewundern abgesehen.

      Dann folgte die zweite Plage: Gletscher und Polareis begannen aufgrund der Erderwärmung deutlich zu schmelzen, die Weltmeeresspiegel stiegen an, bewohnte, pazifische Inseln versanken für immer.

      Die dritte Plage war das exorbitante Seebeben mit dem darauf folgenden, verheerenden Tsunami, der fast eine Viertelmillion Menschenleben gefordert und eine unglaubliche Spur der Verwüstung hinterlassen hat.

      Immer mehr Kriege haben weltweit für Vertreibung und Flucht gesorgt, die Geflüchteten mussten erbittert um einen neuen Platz und ihre Existenz kämpfen, viele haben den Kampf verloren und von denen, die fortan ihren Platz teilen mussten, wurden die neu hinzugekommenen Menschen als Bedrohung erlebt. Das war die vierte Plage.

      Die fünfte Plage war bald nicht mehr zu übersehen: unendliche Mengen von Plastik fand sich in den Weltmeeren, tötete Pflanzen und Tiere und gelangte in die Nahrungskette der Menschen, um sie krank zu machen.

      Wie von selbst kam nun die sechste Plage: überall schossen Faschisten und Populisten wie Pilze aus dem Boden und die Menschen in ihrer Torheit und Bosheit gaben ihnen Macht über sich.

      Die siebte Plage folgte auf den Fuß: Hitze und Trockenheit ließen die Ernten verbrennen und dezimierten die Trinkwasservorräte. Doch sie erkannten noch immer nichts.

      Die achte Plage brachte Stürme und Überschwemmungen, doch die Menschen machten wie gewohnt weiter und ignorierten die Warnungen des HERRN.

      Nun ist also die neunte Plage gekommen. Das Virus hält sie fest im Würgegriff, hat schon viele Tausende getötet und wird weiter töten. Die Mächtigen indes, die es auf welchem Weg auch immer in die Welt gebracht haben, nutzen die Angst und Unsicherheit, um die Massen unter ihre vollkommene Kontrolle zu bringen.

      Kein Zeichen der Einsicht bei den Menschen, keine Bereitschaft zur Umkehr, um für die Wiederkunft des HERRN bereit zu sein. Bald wird die zehnte Plage kommen: die Tötung aller Erstgeburten durch den Engel des HERRN. Und dieser Engel bin ich selbst.

      Ich hatte einen Traum – was sage ich – ein Gesicht, eine Vision, eine Offenbarung des HERRN. Er gab mir das spitze, zweischneidige, flammende Schwert in die Hand, eine Lilienblüte bildete Heft und Griff und ich hörte seine donnernde Stimme sagen: ‚Bereite dem HERRN den Weg, denn siehe, die Himmel sind nahe herbei gekommen, es ist an der Zeit und das Blut der Stammhalter der Verderbten soll den ausgedörrten Boden benetzen und ihm seine Fruchtbarkeit zurück bringen.‘

      Und ich sah mich selbst, wie ich all die Erstgeburten vernichtete und wie das Land sich rot färbte und wie dann überall das Grün aus dem Boden schoss und der Himmel blauer als blau wurde und die helle Sonne alles in goldenes Licht tauchte und die Seraphinen und Cherubim sangen mit glockenhellen Stimmen und der HERR selbst stieg aus den Himmeln und machte alles neu.“

      Renan hat die Verrückte im letzten Moment zu Boden gerungen, bevor sie Hakan das lange, spitze Fleischmesser in den Leib rammen konnte. Um sie herum stehen die Leute mit offenen Mündern, ihre Einkaufswagen schützend vor sich, wie eingefroren, als warteten sie auf den Retter.

      „Verdammt!“, brüllt Renan. „helft mir dieses Ungeheuer festzuhalten. Ruft die Polizei!“

      Die Umstehenden rühren sich noch immer nicht. Die einen glotzen, die anderen gehen einfach weiter, nur weg aus der Gefahrenzone. Schließlich haben sie nichts damit zu tun. Am Ende bekommt man noch einen Messerstich ab, nein nein, das ist sicher eine Stammesfehde, irgendeine Türkenmafia-Geschichte, das sollen die mal schön unter sich ausmachen. Womöglich hat noch einer von denen Corona, denen kommt man besser nicht zu nahe.

      Hakan wählt einen aus, der besonders stark aussieht. Er hat große, kräftige Beine, sehr breite Schultern und einen Kopf wie der Mann auf der Flasche mit dem Reinigungsmittel. Seine schweren, schwarzen Stiefel mit den weißen Schnürsenkeln machen den Eindruck, als wenn ihn nichts und niemand umhauen könnte. Hakan geht auf ihn zu und sagt: „Du bist groß und stark. Kannst du meiner Mama helfen?“

      Der große Mann sieht ihn lange an. Zuerst so, als sehe er durch den kleinen Jungen hindurch. Aber die Hilfsbedürftigkeit und das große Vertrauen in Hakans Augen beschämen ihn. Er kann doch einen kleinen Jungen und eine Mutter nicht hängen lassen, dann wäre er kein Kerl. Er löst sich aus seiner Starre und eilt zur Hilfe. Als sie das sieht, kommt Bewegung in eine junge Frau, die ruft die Polizei.

      „Diesmal war Satan stärker als ich. Aber der HERR wird kommen, das kann Satan nicht verhindern. Der HERR wird siegen. Und ich werde sein Engel sein.“

      Eremit

      Endlich Ruhe. Was für ein Geschenk. Endlich war er da angekommen, wo er schon immer hinwollte. Als Frauke vor einem halben Jahr ausgezogen war, hatte er zunächst einen Anflug von Panik verspürt, eine große Verunsicherung, die Störung der gewohnten Abläufe, da war etwas unkontrollierbar aus den Fugen geraten, entzog sich seiner Selbstwirksamkeit.

      Doch Woche für Woche hatte er gelernt, mit den neuen Anforderungen des Alltags fertig zu werden, hatte feste Tage für seine Routine-Einkäufe, hatte gelernt, sich selbst etwas Schmackhaftes zu essen zuzubereiten und hatte zunehmend die störungsfrei Zeit in seinen eigenen vier Wänden genossen. Kein plärrendes Radio in der Küche, kein nervtötendes Herzkino im Wohnzimmer, keine geschäftige Gattin, die hier etwas ordnete, da etwas putzte, dort etwas zusammenrührte und ihn permanent mit Nichtigkeiten belästigte, seien es Neuigkeiten aus der Nachbarschaft, aktuelle politische Entwicklungen, die neuesten Zipperlein und ausführliche Berichte von Arztbesuchen, ihre Nörgeleien, weil er schmutzige Wäsche im Bad liegen ließ oder seinen Tee zu lautstark schlürfte.

      Perfekt war es trotzdem nicht gewesen. Die Gemeinde hatte ihm kaum Ruhe gelassen. Neben den üblichen regelmäßigen Amtshandlungen wie Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen, hatte es immer Übergriffe auf sein Privatleben gegeben: Anrufe aufgeregter, wichtigtuerischer Presbyter, die ihre Schlaflosigkeit mit ihm teilen wollten, weil irgendein Haushaltsloch ihnen keine Ruhe ließ. Kurzfristig anberaumte Sitzungen aufgrund vermeintlicher Krisen, psychisch labile oder einsame Menschen, die den persönlichen Kontakt suchten für ein tröstendes Gespräch, abgebrannte Präkarier, die vor der Tür standen und es nicht dabei beließen, finanzielle Unterstützung in Anspruch zu nehmen, sondern versuchten, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen, weil er sie nicht umfassend aus ihrem Elend rettete und ihnen so viel Unterstützung gewährte, dass sie für die nächsten Monate ausgesorgt hatten, die manchmal aggressiv wurden und versuchten, ins Haus zu kommen; hormonell übersteuerte Pastorenschwalben von unterirdischem Marktwert, die ihre heimliche Schwärmerei kaum verbergen konnten oder sich nicht einmal Mühe gaben, eine höfliche und angemessene Distanz zu halten.

      Das war jetzt alles ausgesetzt, der Seuche sei Dank. Der stille, von hohen Hecken umsäumte Garten, war in goldenes Frühlingslicht getaucht, die Narzissen blühten um die Wette mit dem schneeweißen Mirabellenbusch und niemand suchte ihn auf, weil man persönliche Kontakte ja vermeiden sollte. Gottlob war vor einer Woche seine Telefon- und Internet-Verbindung zusammengebrochen und ein Mobiltelefon besaß er nicht, das lehnte er kategorisch ab. Er war nun ganz auf sich zurückgeworfen, ging jeden Morgen ins Gemeindebüro, hörte dort den Anrufbeantworter ab, sah die Post durch, rief Leute zurück, erteilte der Verwaltungskraft Arbeitsaufträge fürs Homeoffice und hatte zu seiner großen Erleichterung schon seit einer Woche niemanden mehr beerdigen müssen.

      Er war ganz auf sich selbst zurückgeworfen, spürte den wärmenden Wollstoff auf seiner Haut, der ihm die gefährliche Frühlingskühle vom Leib hielt, spürte den Puls in seinen Adern,

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